Neugelesen – Folge 45: »Musik für Tote und Auferstandene« von Valzhyna Mort

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Valzhyna Mort: Musik für Tote und Auferstandene

Oder: Was habe ich gelesen?

Valzhyna Morts Gedichtband, erschienen im Suhrkamp-Verlag, hat alles: SWR-Bestenliste 2022 im Bereich Lyrik, großer und namhafter Verlag, den N.C. Kaser Lyrikpreis mit 10.000 €, wichtige Themen, spannende Herkunft – die Autorin ist in Minsk geboren –, und herausragendes Presseecho. Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung geht es unter die Haut, die SZ sieht aufgespannte Kindheitsatmosphären, Neue Zürcher Zeitung ist dankbar, FAZ schöpft poetische Kraft, die Berliner Zeitung verfällt ins Tagträumen, Bayern 2 horcht politischen Statements, und so weiter. Der Verlag hat akribisch alle positiven Stimmen auf der Online-Präsenz des Buches versammelt.

Am Ende des Bandes angelangt, war ich irritiert. Hatten all diese Organe dasselbe gelesen, wie ich? Die Gedichte hatten kaum zu mir gesprochen. Sie waren an mir vorübergezogen in ihrem unbedeutenden Ton (angeblich hart, rhythmisch und pointiert). Ihre Metaphern waren allzu häufig hermetisch, aber ohne meine Neugier zu wecken. Warum habe ich nicht diese Sternstunde, die mir angepriesen wurde? Liegt es an mir oder dem Band? Für mich war es einer dieser Momente, an denen ich gespürt habe, warum sich so viele Menschen von Kunst eingeschüchtert fühlen: „Das versteh ich nicht, dafür bin ich zu dumm“ – sonst müsste ich ja eine Gänsehaut haben so wie alle anderen auch, oder nicht? Was tun?

Vielleicht einen Verriss schreiben, aber das ist auch etwas aus der Mode. Man ist zu ängstlich geworden und lobt lieber oder schreibt nichts. Also den Band einfach weglegen? Das ist zumindest langweilig, aber auch unangebracht, denn eine Debatte ist ja wichtig! Literaturkritik ist eigentlich keine Werbung, sondern Anlass zur Reflexion für KünstlerInnen und LeserInnen. So gelange ich zu dieser Selbstreflexion: der Band lässt mich kalt zurück. Ich spüre wenig, nur manchmal bin ich überwältigt. Aus meiner Sicht ist all das, was die PressevertreterInnen zu diesem Band zu sagen haben, höchstens lauwarm gekocht, auch wenn es um heiße Themen wie Belarus geht.
Unbefriedigend. Und plötzlich finde ich mich den Tränen nahe. Ich war selbst ganz überrascht. Zwischen den Seiten 73 und 78 hat sich ein kleines Prosastück mit dem Titel Baba Bronja versteckt. Es handelt von der Kindheit in Minsk und dem Zusammenleben mit der Großmutter. Was sie zu erzählen hatte und wie sie es erzählte und warum sie so widerstandsfähig war, trotz der vielen schweren Zeiten. Es waren Worte, die mir direkt ins Mark fuhren – und mir war vollkommen klar, warum. Eine gute Schriftstellerin schreibt über etwas, dass auch mein Leben sehr stark mitgeprägt hat. Ein europäisches und ganz persönliches Wir-Gefühl. Man sollte nie zu früh aufgeben. Am Ende versäumt man die Tiefe.

Nun sollte ich mich noch fragen, warum mich ausgerechnet ein Gedichtband, der mir nicht gefallen hat, zu so persönlicher Kolumne motiviert hat. Aber die Antwort behalte ich erst einmal für mich und empfehle den Band als Selbsterfahrung dennoch.

 

"Musik für Tote und Auferstandene. Gedichte" von Valzhyna Mort
Buchcover-Abbildung (Edition Suhrkamp)

 

 

 

 

Mort, Valzhyna: Musik für Tote und Auferstandene. Gedichte
Übersetzungen von Katharina Narbutovič und Uljana Wolf
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2021
142 Seiten, Softcover
ISBN: 978-3-518-12766-7

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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