»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Spyra
Die Wandergruppe
Fünf Männer steigen aus einem Bus
und haben für heute genug, und Schluss.
Die Klappe geht auf und ein Rucksack fällt.
So haben sie sich das nicht vorgestellt.
Fünf Männer kommen vom Wandern wieder.
Dem ersten schmerzen die schweren Glieder,
den zweiten wird man nicht wiedersehn,
der dritte handelt mit Voltaren,
der vierte lädt ab und bequemt sich zum Tresen,
der fünfte ist während der Rückfahrt genesen.
Fünf Männer verschwinden um sechs im Hotel,
drei davon langsam und zwei davon schnell.
© Michael Spyra, Halle (Saale)
+ Zu Original und Hintergrund
Die lyrische Momentaufnahme einer Personengruppe in einer Zwischenzeit (also einer Zeit, in der eigenlich nichts passiert und die deswegen auch selten beschrieben ist, wenngleich sie eben sehr häufig auftritt) hatte sich bereits Ror Wolf einmal vorgenommen – und mit seinen »vier herren« einen modernen Klassiker des komischen Gedichts geschaffen.
Michael Spyra übernimmt für seine »Wandergruppe« von Wolf den schwebenden Zustand, wendet dazu ebenfalls den Inhalt so ergänzende wie kontrastierende formale Mittel an (etwa beschwingten Rhythmus und vorantreibenden Paarreim). Dabei aber setzt er das Geschehen in einen Kontext: Wolfs Szene ist rein in sich existent, grotesk durch ihre Nichthandlung und ihre Unbegründetheit (und dabei sagt sie viel über den Menschen aus, den beobachtenden wie den mehr oder weniger agierenden), denn wir sehen lediglich, wie Männer beieinanderstehen, bis sie sich offenbar anschicken zu gehen. Spyra hingegen beschreibt ein greifbares Alltags- bzw. Ausflugsszenario.
Das führt zu einer ganz neuen Wendung des Sujets – und zugleich zurück zur gewohnten Aussage und Perspektive (in der Gesamtwirkung und auch weil die Erlebte Anstrengung hier ja eine durchaus freiwillige ist, das Tun nicht an Leistung oder gar Ergebnis orientiert, sodass Handeln und Nichthandeln hier nun auf einer weiteren Ebene so kunst- wie humorvoll miteinander in Beziehung gesetzt werden).
+ Zum Autor
Michael Spyra, 1983 in Aschersleben geboren, lebt und arbeitet in Halle (Saale) als Diplomsprechwissenschaftler. Er studierte von 2009 bis 2011 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und ist Jurymitglied für den Kinder- und Jugend-Kultur-Preis des Landes Sachsen-Anhalt. Für sein lyrisches Schaffen hat er bereits einige Auszeichnungen erhalten, darunter ein Arbeitsstipendium der Kunststiftung Sachsen-Anhalt (2023), den Klopstock-Förderpreis für neue Literatur (2016) und das Walter-Bauer-Stipendium der Städte Merseburg und Leuna (2010).
Spyra hat bislang drei Gedichtbände veröffentlicht: »Auf die Äpfel hatte der Herbst geboxt« (Mitteldeutscher Verlag 2014), »Die Berichte des Voyeurs. 100 Liebesgedichte« (Mitteldeutscher Verlag 2021) und »In Auflösung begriffen« (Roughbook 59, Engeler 2023).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.