Gedichte, die im Beschreiben des Nichtschreibenkönnens geschrieben werden, stellen eine eigene Traditionslinie in der deutschsprachigen Lyrik dar. Und dazu gibt es freilich Gedichte sonder Zahl, die bezeichnen, was ein Gedicht kann, können sollte oder können wird. Als direkte Vorbilder für Helmut Kraussers »Das erste Wort fand sich« sowie zugleich als Stellvertreter seien hier genannt: Gottfried Benns »Ein Wort« (etwa hier abzurufen: https://www.deutschelyrik.de/ein-wort.html) sowie Lessings »Lob der Faulheit«, das als zentralster Orientierungspunkt hier auch gleich direkt wiedergegeben werden soll:
Gotthold Ephraim Lessing
Lob der Faulheit
Faulheit, itzo will ich dir
Auch ein kleines Loblied bringen.
O – – wie – – sau – – er – – wird es mir, – –
Dich – – nach Würden – – zu besingen!
Doch, ich will mein Bestes tun,
Nach der Arbeit ist gut ruhn.
Höchstes Gut! wer dich nur hat,
Dessen ungestörtes Leben – –
Ach! – – ich – – gähn – – ich – – werde matt ––
Nun – – so – – magst du – – mirs vergeben,
Daß ich dich nicht singen kann;
Du verhinderst mich ja dran.
Darüber hinaus gilt es freilich zu berücksichtigen: Es ist nicht einfach irgendein Gedicht, das da im vorgeblichen Nichtentstehen entsteht. Nein, es handelt sich um ein Sonett, natürlich um eines mit außerordentlich stark verkürzten sowie auf ungewohnten Füßen stehenden Versen (nur zweihebig, üblicher wäre fünfhebig, dazu statt Jambus Daktylus mit Auftakt) – auch hier zeigt sich der Dichter souverän, er bedient zugleich das Tradierte und nimmt sich gehörige Freiheiten heraus.
Welcher zeitgenössische Lyrikfreund müsste da nicht etwa an Robert Gernhardts »Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs« denken? Es hat sich bekanntermaßen zu einem Vorzeigesonett entwickelt, auch weil hier italienische und englische Form gekreuzt werden und entgegen der durch Form und Titel geweckten Erwartung der Inhalt im selbstredend damaligen Jugendsprech daherkommt und nichts als eine rüde Verurteilung der eigenen Form ist (es fängt ja schon an mit »Sonette find ich sowas von beschissen«). Tradition und Freiheit gekonnt zu vermischen, war auch hier schon das Erfolgsrezept.
Der zentrale Mechanismus war dabei: Was der Inhalt für unmöglich erklärte, wurde durch die Form zugleich gegeben. Noch viele weitere bekannte Beispiele zeigen: Das Sonett dient seit Jahrhunderten immer wieder dazu, sich mit seiner eigentlichen Unmöglichkeit (man wird’s nicht schreiben können oder aber es darf eigentlich nicht geschrieben werden) bzw. vorgeblichen Absurdität zu beschäftigen (indem man sich ganz auf sein zentrales Merkmal fixiert, die Form, und den Inhalt auflöst). Letzterem Traditionsstrang sind etwa »Das Sonett« von August Wilhelm Schlegel und »Sonett« von Gerhard Rühm zuzuordnen; beide stellen nichts weiter dar als eine Aufbauanleitung für ein Sonett in Sonettform, wobei Schlegel diese immerhin noch gefällig ausformuliert und Rühm das Prinzip in eine rein schematische Darstellung übersetzt.
Zu ersterem Traditionsstrang sollen hier noch, selbstredend recht willkürlich ausgesucht, angeführt werden: »Mein erstes Sonetto« von Friedrich Haug, »Sonett Nr. 1« von Mynona und »Sonett-Sonett« von F. W. Bernstein. Außerdem ist natürlich, wenn es um das (unwillkürliche) Sicherarbeiten eines Gedichts als Autor und auch als Leser geht, auf Namen wie Friedrich Rückert, Ror Wolf und Axel Kutsch zu verweisen.