Das Vorbild ist hier das – mag es auch noch so antiklassisch anmuten – längst schon klassisch gewordene Gegensonett-Sonett von Robert Gernhardt »Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs«. In ihm schimpft der komische Großdichter in damals jugendnaher Umgangssprache stark und teilweise unflätig auf Sonette als solche und zeitgenössische Sonettschreiber insbesondere – und unternimmt dies, so unlogisch wie logisch, in vorbildlicher Sonettform (wobei er den italienischen mit dem englischen Ansatz vermengt).
1979 im Zeit-Magazin erschienen, sorgte es für einigen Wirbel, u. a. da das sprachkritische und -parodistische Element, das ihm inhärent ist, zuweilen nicht gesehen wurde. So blieb nur die Frage, was denn, bitteschön, die Fäkalsprache (die gemeinhin übrigens gerade nicht als gernhardttypisch angesehen werden kann) im intellektuellen Blatt und dort auch noch auf dem Platz der Poesie zu suchen habe.
Es war ein veritabler Skandal – der übrigens, wie Gernhardt selbst einmal auf einer Lesung erzählte, nicht nur seiner Bekanntheit und seinem dichterischen Erfolg deutlich zuträglich sein sollte, sondern auch auf einem glücklichen Zufall beruhte: Der eigentlich fürs Lyrische zuständige Redakteur war nicht da und hatte überraschend einmal nicht diese Rubrik schon weit im Voraus bespielt, dazu bewies eine Nachwuchskraft den Mut, jenes Poem, das ihr sehr gefiel, einfach mal zu bringen, wohlwissend, dass diese Tat nicht nur, aber auch vom Vorgesetzten kritisch hinterfragt werden würde.
Doch dieses Sonett stieß nicht nur auf Ablehnung, nein, bei weitem nicht: So begegnete mir dieses Gedicht etwa schon in der Mittelstufe, also Mitte der 90er, im Deutschunterricht – da war es längst Schulstoff geworden. Und der geistige Gernhardt-Sohn Thomas Gsella konnte sich einer so großen Be- und Anerkanntheit ebenjener Gernhardt-Verse und ihres kunstvoll-sperrigen Titels gewiss sein, dass er nicht nur dessen Titel mit dem Namen eines damals zur Pop-Ikone emporgestiegenen Hollywoodschauspielers für ein Gedicht kreuzte, sondern seinen neuen Gedichttitel auch noch den Titel seines ersten Lyrikbandes bestimmen ließ. Dieser erschien 1999 und hieß »Materialien zur Kritik Leonardo Di Caprios und andere Gedichte«.
Für »Materialien zu einer Witterungskritik« nun übernimmt Philip Saß insbesondere in der Überschrift und den beiden ersten Versen einige Versatzstücke des Originals mit besonders hohem Wiedererkennungswert, zudem orientiert er sich in Ausdruck, Klang, Form und genauer humoristischer Färbung durchgehend stark am Vorbild (wobei er aber anders als jenes ganz auf die italienische Sonettgestalt setzt, also etwa den umarmenden Reim statt des Kreuzreims in der Quartetten verwendet sowie auch keinen Schlusspaarreim bringt). Und er übernimmt zwei wichtige Motive: das Sich-Aufregen sowie dass dies alles einen echt krank macht (wobei er hier Gernhardts Metaphorik in die Sphäre des Tatsächlichen stürzt). Lustvoll und mit großer Könnerschaft wendet Saß so das vielleicht berühmteste Gedicht Gernhardts, den er zweifellos kennt und verehrt – und schreibt es so zum ewigen Genuss der Leser in einem zeitlosen Sujet fort.
Nachlesen sowie über einen Lesungsmitschnitt auch nachhören lässt sich Robert Gernhardts »Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs« auf Lyrikline: https://www.lyrikline.org/de/gedichte/materialien-zu-einer-kritik-der-bekanntesten-gedichtform-italienischen-ursprungs-2962
Weitere interpretatorische und Hintergrundinformationen finden sich etwa im Wikipedia-Artikel zum Gedicht: https://de.wikipedia.org/wiki/Materialien_zu_einer_Kritik_der_bekanntesten_Gedichtform_italienischen_Ursprungs