»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Philip Saß
Fischerweise
Herrn Fischer fechten Sorgen
und Kram wie Gram nicht an,
drum fährt er jeden Morgen
als Schaffner mit der Bahn.
Da lagert rings noch Friede
im Zug aus Offenbach;
er ruft mit seinem Liede
die müden Pendler wach.
Er schreitet stramm zu Werke,
mit stolzgeschwellter Brust:
Die Arbeit gibt ihm Stärke,
die Stärke Lebenslust.
Wenn wer aus dem Gewimmel
sich falsch zu fahren traut,
dann gnad’ ihm Gott im Bimmel,
dann wird Herr Fischer laut.
Des Zuges Bremsen gellen,
dann wirft er resolut
den ärmlichen Gesellen
tief in des Maines Flut.
Betrüger, spar die Tücke,
er ist ein schlauer Wicht:
Spiel nicht mit deinem Glücke,
Herrn Fischer narrst du nicht!
© Philip Saß, Dänischenhagen
+ Das Original
Die Vorlage für die »Fischerweise« von Philip Saß ist das bis heute weit verbreitete gleichnamige Lied von Franz Schubert (Musik) und Franz Xaver Schlechta von Wschehrd (Text). Nachfolgend wiedergegeben findet sich die zweite Fassung des Gedichtes, das Schubert – gegenüber der Urfassung textlich etwas modifiziert (es gibt kleine Formulierungsänderungen, und die ehemals fünfte Strophe ist gestrichen) – vertont und so maßgeblich mit ins kollektive kulturelle Gedächtnis überführt hat.
Franz von Schlechta
Fischerweise
Den Fischer fechten Sorgen
Und Gram und Leid nicht an,
Er löst am frühen Morgen
Mit leichtem Sinn den Kahn.
Da lagert rings noch Friede
Auf Wald und Flur und Bach,
Er ruft mit seinem Liede
Die gold’ne Sonne wach.
Er singt zu seinem Werke
Aus voller frischer Brust,
Die Arbeit gibt ihm Stärke,
Die Stärke Lebenslust.
Bald wird ein bunt’ Gewimmel
In allen Tiefen laut
Und plätschert durch den Himmel,
Der sich im Wasser baut.
Doch wer ein Netz will stellen.
Braucht Augen klar und gut,
Muß heiter gleich den Wellen
Und frei sein wie die Flut.
Dort angelt auf der Brücke
Die Hirtin. – Schlauer Wicht,
Entsage deiner Tücke,
Den Fisch betrügst du nicht!
+ Zum Autor
Philip Saß, geboren 1988 in Kiel, studierte Germanistik und Geschichte in Marburg und Kiel, schloss das Studium mit einer Master-Arbeit über den gespaltenen Reim in der komischen deutschsprachigen Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts ab. Wartet seither in Dänischenhagen (Schleswig-Holstein) auf seinen großen Durchbruch und schreibt Gedichte, weil er, wie er sagt, alle anderen Kulturtechniken noch viel weniger beherrscht. 2019 Gewinn des Publikums- und 2022 des Jurypreises beim Großen Dinggang, einem Preis für komische Lyrik.
Veröffentlichungen in Zeitschriften (wie Titanic, DAS GEDICHT, Exot) und Anthologien (etwa »Lichtblicke«, hg. v. Anton G. Leitner, Reclam 2022, und »Vom Knödel wollen wir singen«, hg. v. Christian Maintz, Kunstmann 2018) sowie im Rundfunk (u. a. im WDR und im RBB). Kürzlich erschienen ist zudem mit »Abschaffung der Schwerkraft« sein erster Gedichtband (Container Press 2023). Dazu bloggt Saß sporadisch unter: www.dasgedichtderherrschendenklasse.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.