»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Jan-Eike Hornauer
Auszug
Ach, nichts ist mehr im Haus als Leere.
Wodurch der Mutter Schritt gewaltig hallt.
Wenn doch nur Kinderlachen wäre,
Geschrei auch mal, bis dass es knallt!
Erwachsen sind nun ihre Kleinen.
Und wer erwachsen ist, zieht aus.
Sie sagt sich, da gibt’s nichts zu weinen.
Ihr Schluchzen tönt darauf durchs Haus.
Ja, was wird hier denn nun noch kommen?
Im Grunde nichts – und dann der Tod.
Oh, plötzlich sieht sie ganz verschwommen,
dazu gibt’s größte Atemnot.
Die Mutter fällt ins Bodenlose,
hinein in schwarze Ewigkeit.
Sie denkt noch kurz: »Verfluchte Chose!«
Dann ist von allem sie befreit.
Und als ihr Mann sie abends findet,
da liegt sie starr und völlig kalt.
Ach, welch ein Schrei sich ihm entwindet
und endlos grausam widerhallt!
Es kniet verzweifelt und verloren
der Vater nun in seinem Haus.
Familienglück wurd’ hier geboren.
Und jetzt, da meint es größten Graus.
Nur Tage später steht in Flammen,
was Heimat einst gewesen war.
Es sitzt, voll Ruß, bedeckt mit Schrammen,
der Vater vorm Inferno da.
© Jan-Eike Hornauer, München
+ Zu Original und Hintergrund
Das Vorbild stellt hier »Mutter geht durch ihre Kammern« dar. Das 1811 von Friedrich de la Motte Fouqué erstveröffentlichte Gedicht hat insbesondere durch die Vertonung seitens Franz Schubert von 1816 bemerkenswerte Verbreitung gefunden und die Zeiten bis heute überdauert. Nicht nur mit Notenbegleitung, sondern auch für sich stehend ist es dabei ein exemplarischer Vertreter der Romantik: in seiner ganzen Motiv- und Farbsprache ebenso wie in seiner Figurenkonstellation und seinem Ton sowie natürlich dem finalen Untergang, der eine Welt beendet – so absolut wie rein privat.
Friedrich de la Motte Fouqué
Mutter geht durch ihre Kammern
Mutter geht durch ihre Kammern
Räumt die Schränke ein und aus,
Sucht, und weiß nicht was, mit Jammern,
Findet nichts, als leeres Haus.
Leeres Haus! O Wort der Klage,
Dem, der einst ein holdes Kind
Drin gegängelt hat am Tage,
Drin gewiegt in Nächten lind.
Wieder grünen wohl die Buchen,
Wieder kommt der Sonne Licht,
Aber, Mutter, laß’ Dein Suchen,
Wieder kommt Dein Liebes nicht.
Und wenn Abendlüfte fächeln,
Vater heim zum Herde kehrt,
Regt sich’s fast in ihm, wie Lächeln,
Dran doch gleich die Thräne zehrt.
Vater weiß, in seinen Zimmern
Findet er die Todesruh’,
Hört nur bleicher Mutter Wimmern,
Und kein Kindlein lacht ihm zu.
+ Zum Autor
Jan-Eike Hornauer, geboren 1979, lebt als freier Textzüchter (Autor, Herausgeber, Lektor und Texter) in München. In Lübeck auf die Welt geworfen, aufgewachsen in Hausen bei Aschaffenburg, Studium der Germanistik und Soziologie in Würzburg. Seine literarischen Schaffensschwerpunkte sind: gereimte Lyrik (u. a. komische Gedichte sowie Gedichte zu den Themen Liebe, Gesellschaft und Tiere) und Kurzgeschichten unterschiedlichster Stimmungslage. Er ist zweiter Vorsitzender des Münchner Künstlervereins »Realtraum«, freier Redakteur bei »DAS GEDICHT blog« sowie Mitglied der »Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik« (GZL, Leipzig). Gedichte von ihm sind u. a. erschienen in Publikumsmedien (wie taz und Main-Echo sowie WDR 3 und 5), in Anthologien (u. a. bei Reclam und dtv) sowie in Literaturzeitschriften / -reihen (z. B. DAS GEDICHT, Versnetze, Poesiealbum neu, etcetera und Poesie Agenda).
Zuletzt von ihm als Buch herausgekommen sind sein zweiter Solo-Lyrikband »Das Objekt ist beschädigt – zumeist komische Gedichte aus einer brüchigen Welt« (muc Verlag 2016) und »Wenn Liebe schwant«, eine Anthologie mit neuen komischen Liebesgedichten zeitgenössischer Poeten (muc Verlag 2017).
Auf »DAS GEDICHT blog« hat er u. a. mehrere Online-Anthologien verantwortet, zu denen er auch je eigene Beiträge beigesteuert hat (etwa »Wenn Liebe schwant III« und »Vom Leder gezogen – zur EM 2016 in Frankreich«). Zusammen mit Alex Dreppec und Fritz Deppert hat er hier überdies die Reihe »Lockdown-Lyrik« herausgegeben, in der zahlreiche Poetinnen und Poeten den ersten Corona-Shutdown unmittelbar lyrisch begleitet und kommentiert haben.
Textzuechterei.de/autor.html
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.