So streng wie frei nach »Das Ende der alten Verhältnisse – Erster Teil« von Ror Wolf gestaltet Carsten Stephan hier ein groteskes Untergangsszenario. Neben dem genannten Hauptvorbild können als weitere Bezugspunkte ausgemacht werden: klar der allgemeine Ror-Wolf-Ton samt zugehöriger Bilder-, Erzähl- und Stilwelt, der sich auch im typischen achselzuckenden Schluss ausdrückt, sowie auf eher indirekte Weise die Gedichte »vier herren« von Ror Wolf und »Weltende« von Jakob van Hoddis.
Doch der Reihe nach: Im Hauptvorbild, in Wolfs »Das Ende der alten Verhältnisse – Erster Teil«, verspricht die Überschrift mehr, als die nachfolgenden Strophen dann einlösen, denn es wird, zugleich dramatisch überhöht und mit gekonnt humoristischer Lakonie versehen, letztlich nur ein Unwetter beschrieben, ein heftiger Regentag. Quasi mit Blitzlichtern wird dabei in Umgebung und Gesellschaft geleuchtet, werden so einige Mosaikstücke aufgebaut und zu einem Gesamtbild gefügt. Dieses Blitzlichter-Grundprinzip nun übernimmt Stephan von seinem Vorbild, ebenso wie Strophenform, Metrik, Reimschema und zahlreiche Stilmittel, etwa jenes des Binnen- sowie gewagten Endreims mit langen Worten, der spielerischen Substantivhäufung, der stakkatoartigen Alliteration, der gezielten irritierenden Unlogik (hier etwa der nächtliche Paketzusteller). Dabei lehnt er sich auch in der Motivik an das Original an, orientiert sich etwa im Wechsel der Impressionen sowie in ihrer Grundgestalt an ihm. Dabei gelingt es Stephan, zwar den Gehalt zu übernehmen, aber die Bilder stets noch grotesk zu wenden und zu steigern, zu modernisieren sowie auch ganz eigene zu finden, die jedoch zugleich auch stets in die Wolf’sche Welt passen würden, nach ihr ausgerichtet sind.
Wo etwa im Vorbild »ein blasser, nasser / ein dicker Mann im Badewasser« liegt, findet sich bei Stephan die entsprechende Figur derart beschrieben: »Im Erdgeschoss verfließt ein weicher, fetter, / Ein aufgelöster Mann vorm Fernsehwetter.« Zudem sind beispielsweise der Mond und dessen Verschwinden sowie kulinarische Beschreibungen bei Wolf oft vorzufinden, Stephan führt diese beiden Stränge nun im Mond, der aufgefressen wird, zusammen, und es wird mit dem Imbisswagen ein modernes Zivilisationinsignium aufgeführt, was Wolf nicht nur modernisiert, sondern, da dieser auch eher für die gehobene Lebenswelt steht, bei aller Fortführung zugleich diametral zuwiderläuft.
Die Szenerie verlagert er dabei von der Bergwelt (Alpen, Flüsse, Schluchten sind bei Wolf, nicht untypisch für ihn, noch von großer Bedeutung) in die Stadt, diese Verlagerung funktioniert ebenso auch als Teil der Modernisierung des Gedichts, so dass etwa hier nicht die Flüsse, sondern die Regenrinnen bedrohlich auftreten. Und durch das allgemeine städtische, moderne Lebensumfeld samt technischer Motivik (z. B. Verkehrswege, Baugerüste, Kran) sowie die durchaus distanzierte komische Drastik der Schilderung, ja, in seiner Lebensbedrohlichkeit für den modernen Menschen und in seiner schlussendlichen Kulmination in der Katastrophe erinnert der Gedichtkorpus, der hier deutlich über das Kernvorbild hinausreicht, zudem an Jakob van Hoddis’ Expressionismusparadepoem »Weltende«.
Dass am Ende nichts weiter zu berichten ist, kommt bei Wolf häufig vor. Manchmal wird das behauptet, weil de facto eigentlich nichts geschehen ist in der zuvor beschriebenen Szenerie, mal auch wenn vorher ungeheuer viel passiert ist, etwa nahezu alle Protagonisten des vorigen Gedichts resp. Zyklus tot sind, also eine veritable Katastrophe eingetreten ist. Stephan verbeugt sich am Ende mit diesem Kniff, der Wolfs gesamtes dichterisches Werk durchzieht und sich gar schon als Erkennungszeichen verstehen lässt, vor dem Vorbilddichter. Exemplarisch für dieses Verfahren des »Es gibt nichts (weiter) zu berichten« anzuführen ist mit »vier herren« eines der über Anthologien und Co. am weitesten verbreiteten Wolf-Gedichte überhaupt: In jenem Poem, das Spannung aufbaut, nur um sie verpuffen zu lassen, das in reduziertester komischer Lakonie Alltag beschreibt, stehen vier Männer beisammen – um nichts zu tun und dann auseinander zu gehen: eine scheinbar völlig sinnlose Alltagsbeobachtungsszene in vorgeblich dahingeworfenen Versen.
Diese Männergruppierungsszenerie und ihre sinnlose Ruhe finden sich nun auch, selbstredend in kunstvoll gewendeter Form, in Carsten Stephans Versen wieder. Allerdings mit ganz anderem, aber dabei eben auch weiterhin Wolf-typischem Ausgang (etwa Freunde seiner Figur Hans Waldmann kennen das): Es steht am Schluss die Katastrophe, der angekündigte Untergang tritt wirklich ein. Und das ist nicht nur diametral entgegengesetzt zum direkten Wolf-Vorbild »Das Ende der Verhältnisse – Erster Teil«, sondern zudem gilt bei Wolf ganz allgemein, selbst wenn Beteiligte sterben, geht es eigentlich doch immer irgendwie weiter: Das Ende an sich, der globale Untergang ist durchaus als Wolf-untypisch zu apostrophieren. Hier nimmt Stephan also wieder eine Steigerung im Vergleich zum Kernvorbildpoem vor: Er wird, vergleichbar dem Hoddis’schen »Weltende«, ganz radikal und grundsätzlich, so dass bei ihm schon schlicht deshalb nichts mehr zu sagen bleibt, weil nichts mehr ist (was wiederum, so das unlogische Spiel, ja doch ausgesagt wird).