Sinnliche Lyrik, Folge 1: »Kikibeach 4« von Verena Stauffer

Die Reihe »Sinnliche Lyrik« vereint zeitgenössische Gedichte, die mit einem sinnlichen Sprachgebrauch spielen, die in ihrer Körperlichkeit klingen und wirken. Jeden zweiten Monat, jeweils am 25., stellt Sophia Lunra Schnack ein weiteres Poem vor – und mit ihm einen neuen Dichter oder eine neue Dichterin.


Verena Stauffer

Kikibeach 4

Vom Olymp aus, der Blick über die Erde
Die Gletscher im Norden schmelzen zu Seen
Auf Booten werden Menschen sie befahren
Aus Wasser wurden sie, zu Wasser werden sie
Wasser der Seen versiegt, See zu Sand

Sand zu Staub: Ihr sind neulich Flügel gesprossen
Echt jetzt. Am Kikibeach, als Sturm wehte
Das Meer schwappte in flachen Wellen auf sie zu
Im leeren Hals der Sonnenschirmständer
Spielte der Wind ihr eine heiligere Sinfonie

Ihr Kopf wurde Ton, ein Laut in unterschiedlichen Sphären
Eine Explosion. Gewissheit beginnt mit der Frage
Im Herzen. Am Horizont nichts, offener Raum zu Afrika hin
Was, wenn es sie beide doch gibt? Hilflosigkeit. Sei Muschel
Open up, close down. Don’t get cracked. Leave the poison outside

Sie zieht sich aus, es ist kalt, steigt ins Wasser
Schwimmt, Wellen kräuseln sich im Wind
Der Blick zurück, da steht ein Mann, sie glaubt
Er ist es, und es ist ihr, als riefe er gegen den Sturm:
Ich bin gekommen, um mit dir zu leben
Sie haben das geträumt an einem friedlichen Ort
Für Horen, eine Zeit, die sich ewig anfühlt, doch die nie war
Er ist nicht gekommen, um mit ihr zu leben. Sein Trick war
Nicht einmal zu kommen, um zu lieben

Zurück am Strand hilft ihr ein Fremder ins Kleid
Er knöpft es zu, wie das Hemd eines Kinds
Da sprießen ihr Flügel aus dieser Materie
Jetzt fliegt sie kichernd von Fenster zu Fenster
Spürt das Aufkommen im himmellosen All

Es war schön, am Kikibeach, ein Trick
Der Moment, als er in ihr zerbricht
Sie erinnert ihn. Es war der Moment
Als sie geboren wurde, sie stieg aus dem Wasser
Flügel sprossen. Sie wurde frei


© Verena Stauffer, Wien

(Auszug aus dem Zyklus »Kikibeach«, weitere Gedichte des Zyklus sind bald zu lesen in der Lyrikanthologie »habe bewurzelte Stecklinge – Geografie meiner inneren Sprache«, hg. v. Lea Menges und Raoul Eisele, lex liszt, Herbst 2023. Ihr nächster Solo-Gedichtband, der auch den gesamten Zyklus enthalten wird, erscheint im Herbst 2024 bei Kookbooks.)


Zur Autorin:
Verena Stauffer wurde 1978 in Kirchdorf an der Krems geboren und ist im oberösterreichischen Molln aufgewachsen. Studium der Philosophie an der Universität Wien. Absolventin der Leondinger Akademie für Literatur und der Lyrikkritikakademie des Hauses für Poesie zu Berlin. Mitglied im Literaturverein Manuskripte, in der Künstler*innengalerie Maerz und im Netzwerk Lyrik, Deutschland. Lebt in Wien. Als Max-Kade-Stipendiatin erhielt sie 2021 eine Gastprofessur für Creative Writing am Liberal Arts College von Allegheny in den USA. Ihr Gedichtband »Ousia« (Kookbooks 2020) war für den österreichischen Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen ist: »Geschlossene Gesellschaft« (Frankfurter Verlagsanstalt 2021).


Sophia Lunra Schnack (Foto: Walter Pobaschnig)

Zur Herausgeberin:
Sophia Lunra Schnack ist selbst Lyrikerin und zudem Prosaautorin, sie schreibt auf Deutsch und Französisch. Geboren wurde sie 1990 in Wien, wo sie derzeit auch lebt. Studium der Französischen, Italienischen und Deutschen Philologie in Wien, Mulhouse und Bologna. Bisher Veröffentlichungen u. a. in manuskripte, Poesiegalerie, Das Gedicht und Signaturen. Dazu erhielt Schnack 2022 den Rotahorn-Förderpreis.

Ihr Debütroman »feuchtes holz« erscheint im Herbst 2023 bei Otto Müller. Momentan Arbeit an der Kurzprosasammlung »Fliederkuss« sowie am zweisprachigen Lyrikzyklus »wimpern piniengrün – cils vert de pins«.

www.sophialunraschnack.com



Alle bereits erschienenen Folgen von »Sinnliche Lyrik« finden Sie hier.



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