Wahre Zugewandtheit und starke Pointen: Ander Ski vermisst so lustvoll wie geistreich das Verhältnis zwischen Mann und Frau

Voll und ganz dem Objekt der Begierde verschrieben, gewitzt und reich facettiert – das ist der neue Gedichtband von Ander Ski. Worum es geht, macht schon sein Titel eindrücklich klar: »Die Frau – 100 Vermessungen oder Der Mann verschwindet im Anthropozän«. Die Lektüre zeigt dann: Die alte Geschlechterfrage wird hier neu aufgemacht, und das aus wirklich frischer Perspektive, mit viel Schwung und einem Pointenfeuerwerk sowie wahrer Hingewandtheit. Dabei wird viel begehrt – und dies zumeist aus der Ferne.

Hundert Miniaturen, die ein stimmiges Gesamtbild ergeben

Die Sprache ist prosanah, hat aber zuallermeist einen eigenen Rhythmus, lyrische Stilmittel wie Reime werden nur selten und gezielt eingesetzt. Jeder der kurzen Texte, die üblicherweise zwischen drei und sieben Versen lang sind, stellt eine eigene Miniatur dar, und zusammen ergeben sie ein großes, in sich stimmiges Bild – auch weil sie in durchdachter Anordnung präsentiert werden und so letztlich bei aller Unabhängigkeit doch einen erzählerischen Bogen schlagen. Selbstverständlich kann man als Leser in diesem Gedichtband hin und her springen, doch noch mehr sei empfohlen, der Komposition zu folgen.

Wie wörtlich zu verstehen der Titel ist, wie stark er umgesetzt wird, zeigt schon das erste Gedicht, das sogleich den Ton und die Form für alles Nachfolgende vorgibt:

Die Frau, ich sehe sie.
Ich folge ihr.
Von der Seite.
Von rechts ist sie schön,
doch dann schiebt
sich ein LKW dazwischen

Formal exemplarisch für den gesamten Band sind die Länge des ersten Gedichts, seine Titellosigkeit und das Fehlen des letzten Satzzeichens. Außerdem wird dieser lyrische Text mit »Die Frau« eingeleitet, was für die Mehrzahl der Gedichte im Band ebenfalls zutrifft (und selbst jene, die nicht so anfangen, schieben eine Wendung wie »diese Frau« üblicherweise bald nach). Dies lässt freilich – und das dürfte kein Zufall sein – an Eugen Roth und seinen legendären seriellen »Ein Mensch«-Einstieg denken.

Distanz zwischen Objekt der Bewunderung und lyrischem Ich

Doch auch für die Stimmungslage, die Distanz zwischen Objekt der Beobachtung und lyrischem Ich, für das letztlich harmlose und konsequenzfreie Bewundern sowie für die Schlusspointe ist dieses Auftaktpoem prototypisch.

In wenigen Zeilen werden dabei in rascher Folge mehrere Motive ins Spiel gebracht: Auf die unvermittelt auftauchende Versuchung im Alltag folgt die Erkenntnis, dass jede Wahrnehmung perspektivabhängig ist, was verhindert, dass gleich die gesamte Frau als attraktiv benannt wird, denn man will ja nichts behaupten, was nicht hundertprozentig abgesichert ist. Darum sagt man – typisch deutsch – nicht, dass die Frau toll aussieht, sondern nur – denn mehr weiß man ja noch nicht – dass sie rechtsseitig attraktiv wirkt. Doch schon kurz darauf fährt in den letzten beiden Versen lapidar das Schicksal dazwischen – und dies zwar offenkundig nicht zwingend und unwiderruflich, doch eben ausreichend, um diese Episode, die auch eh kaum eine vernünftige Fortführung hätte erfahren können, abzuschließen.

Die existentielle Alltagsabsurdität im Geschlechterverhältnis

Ganz klar ist dabei auch: Diese flüchtige Fast-Begegnung verrät letztlich mehr über den Mann als über die Frau. Und sie zeigt die beiden wohlwollend in der harmlosen und doch existentiellen Absurdität des Alltags. Mit viel Witz wird so auf Grundsätzliches, auf die Conditio humana abgezielt, und dies wiederum unter dem Aspekt eines durchaus sehr gegenwärtigen Geschlechterverhältnisses.

Wer fühlt sich da nicht selbst ertappt? Doch auf angenehme, spitzbübische Art: Die Lektüre der hundert Frauengedichte ist zweifelsohne amüsant, erhellend und abwechslungsreich. Und sie versöhnt gewiss auch ein ganzes Stück mit dem zuweilen sehr merkwürdigen Be- und Anziehungstamtam, von dem jeder, ob Mann oder Frau, bestimmt selbst schon einige Aspekte erlebt, erlitten und bestaunt hat.

Weitere Beispiele an Gedichten, in denen die Distanz nicht überwunden werden kann, finden sich reichlich in Skis neuem Buch, und dennoch zieht sich ein positiver Grundton durch alle Gedichte, es gibt keine Verzweiflung und meist wird die Hingezogenheit auch nicht einmal aufgelöst.

Etwa eilt der Ich-Erzähler immer ins Café gegenüber, wenn die Frau gerade gegangen ist, »um den letzten Fetzen / ihres Parfüms zu erhaschen«. Oder er versucht sogar eine Kontaktaufnahme (von der sie vielleicht etwas mitbekommt, aber wahrscheinlich eher nicht). Doch auch hier geht es nicht ums Ergebnis, sondern um den schönen Dauerzustand in der Schwebe:

Die Frau, sie kommt
täglich.
Sie ist bei der Post
und bringt mir Liebesbriefe.
Sie haben nicht etwas vergessen?,
ruf’ ich ihr noch nach.

Ein Spiel von großer Vielseitigkeit

Man mag jetzt fragen: Ist’s immer so harmonisch? Und schmachtet immer er, und sie bleibt davon unberührt? Nun, natürlich nicht, dazu ist der Dichter Ander Ski viel zu klug und gewitzt. Er sieht das Spiel zwischen Mann und Frau durchaus in seiner großen Vielseitigkeit und stellt es auch so dar. Wobei der Grundton freilich bleibt, einer, der übrigens auch an Wilhelm Genazino, den Meister der humorvollen Melancholie des letztlich stets einsamen Mannes, erinnert.

Es wird aber eben etwa auch die Frau als aktiv und werden beide in einer Beziehung gezeigt, und dies durchaus boshaft-süffisant und nicht nur zärtlich schwärmend:

Die Frau, sie achtet
Mich. Trotz allem!
Das ist das Wichtigste,
sagt sie

Oder es wird die ganze Ambivalenz eines Verhältnisses auf knappem Raum deutlich:

Die Frau. Wegen ihr
mache ich Umwege.
Sie zu treffen,
dann ihr auszuweichen.
Was die bei Apple wohl denken mögen?
Da staut sich was auf

Und es kommt sogar zur direkten Beobachtung eines anderen Paars: Der Beobachter ist also nicht automatisch gleich Teil des Beziehungsgeflechts, er kann auch – wenngleich er dies natürlich nur ausnahmsweise ist – einfach mal ausschließlich Beobachter sein, rein in dieser zumindest vorgeblich neutralen und teilnahmslosen Position verharren:

Die Frau in den Fenstern
gegenüber. Sie trägt Korsett.
Schwarz.
Ihr Mann Boxershorts und Turnhemden.
Alles weiß.
Zusammen habe ich sie noch nie gesehen.

Prägnant, gewitzt und über sich selbst hinausweisend

Ein kurzes klares Bild, prägnant und gewitzt, über sich selbst hinausweisend und unmittelbar zugänglich, so wie hier, das ist, was man als Leserin, als Leser von Ander Ski erwarten darf. Ich empfehle unbedingt die Lektüre, sich auf diesen Beobachter einzulassen, der alles hinterfragt, mit zugewandtem Humor, mit Zärtlichkeit, auch mal mit bösem Spott, der Frauen und Männer gleichermaßen aufs Korn nimmt – und sich so lustvoll wie überfordert dem Geschlechtertanz Runde um Runde hingibt.

(jeh)


Eckdaten zum Buch

Ander Ski
Die Frau – 100 Vermessungen
oder Der Mann verschwindet
im Anthropozän
Gedichte
Edition Isele
März 2024
112 Seiten
Hardcover, Lesebändchen
€ 18,90
ISBN 978-3-8614-2650-9






Weiteres Info-Material


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert