Wiedergelesen – Folge 4: »jetzt mueßte der kirschbaum bluehen« von Norbert C. Kaser, außerdem »herrgottswinkel« von Volker Derlath (Photographien) und Norbert C. Kaser (Gedichte)

Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.

 

Ich weiß nicht mehr, wann ich den Band »jetzt mueßte der kirschbaum bluehen« von Norbert C(onrad) Kaser zum ersten Mal in der Hand gehalten habe. Vermutlich dürfte dies im Erscheinungsjahr 1983 gewesen sein. Der Züricher Diogenes Verlag hatte das Taschenbuch laut Impressum als Originalausgabe und – mit einem feuerroten Aufkleber – sogar als »Erstausgabe« auf dem Markt platziert. Zu Lebzeiten des Autors waren nur selbstgefertigte Gedichthefte in den Umlauf gekommen. Kaser hatte sie sorglos und vielleicht auch mit der Hoffnung, auf diesem Weg entdeckt zu werden, unter Freunden und (Mit-)Trinkern herumgereicht. Erst nach dem Tod des Autors im Jahr 1978 kamen dann zwei Zusammenstellungen von Texten in einem Wiener Kleinverlag heraus. Kasers literarischen Durchbruch, der vor allem der Kennerschaft und dem Enthusiasmus von Hans Haider zu verdanken ist, erfolgte schließlich durch die Veröffentlichung im Diogenes Verlag. Haider steuerte dazu als Herausgeber ein kurzes Nachwort bei, das ein Glanzstück biographischer Essayistik ist.

Das kurze Leben von Norbert C. Kaser ist schon so oft ›erzählt‹ worden, dass ich mich hier auf wenige Hinweise beschränken kann. Kaser wurde 1947 in Brixen als uneheliches Kind geboren (»heimlich zur Welt gebracht«, wie es Haider formuliert) und anschließend eine Zeitlang bei Klosterfrauen, den »grauen Nonnen«, in die Pflege gegeben. Seinen Nachnamen erhielt er vom Stiefvater. Die Eltern schickten ihn, obwohl es zu Hause an fast allem mangelte, auf das Gymnasium in Bruneck. Erst im dritten Anlauf bestand er die Matura. Da war er schon als Frater von den Kapuzinern aufgenommen und bald darauf wieder aus dem Kloster komplimentiert worden (oder im Protest gegangen, je nachdem). 1969 verstört er dann in der Brixener Cusanus-Akademie die Südtiroler Zuhörerschaft mit einer heftigen Attacke gegen die konservative, rückwärts gewandte Literatur seiner Heimat. In den Jahren, die ihm noch bleiben, lässt er keine Provokation aus. Er sagt der katholische Kirche Adieu (»da ich ein religiöser Mensch bin«), tritt in die KPI ein, arbeitet als Hilfslehrer, die Zweiliter-Weinflasche auf dem Pult, in abgeschiedenen Bergdörfern hoch über dem Pustertal, kurze Zeit auch als Mauteinnehmer an der Brennerautobahn in Sterzing; dazwischen bricht er immer wieder zu Reisen auf nach Norwegen und Tunesien oder nur nach Wien und vor allem in die italienische Nachbarschaft, die er als zweite Heimat begreift, nach Verona und Triest. 1978, er hatte sich gerade wieder einmal einer Entziehungskur unterzogen, kommt der endgültige Zusammenbruch: Leberzirrhose und Lungenödem, so lauten die finalen Diagnosen.

Zurück zu dem Taschenbuch »jetzt muesste der kirschbaum bluehen«, das ich mehr als drei Jahrzehnte, nachdem ich zum ersten Mal auf den Namen von Norbert C. Kaser gestoßen war, immer noch staunend durchblättere. Am Anfang des Gedichtteils stehen elf Kindergedichte, jedes »ein scherzo«, beginnend mit den einfachen Zeilen über einen Birnbaum: »im sommer macht er nichts / im herbst wirft er birnen ab«. Kaser muss, das lässt sich an seinen für Kinder eingerichteten Texten ablesen, ein begabter, einfühlsamer Pädagoge gewesen sein. Als Autor verkehrte er mit den Kindern auf Augenhöhe, weder herablassend noch absichtsvoll und schon gleich gar nicht anbiedernd, im Gegenteil. Was er für seine Schüler schrieb, war poetische Übersetzungsarbeit, die immer von der Erlebniswelt und der Sprache der Kinder ausging: »laß keine fliege in / der milch baden / laß keinen fuchs bei / hennen übernachten«. Von solchen Gedichten führt nur ein kurzer Weg zu den lyrischen Kindheitserinnerungen, die weit mehr sind als nostalgisch eingefärbte Impressionen: nämlich schmerzhaft genaue Vergegenwärtigungen früher Angstzustände, ob es sich um den Anblick eines toten Siebenmonatskindes im Taufkleid (»die kindsleiche von schloss neuhaus«) handelt oder um einen verheerenden Brand (»brenn vaterhaus brenn / brenn großmutterhaus / das vieh ist heraus / & auch die henn«). Die Jahreszeiten sind bei Kaser scharf konturiert, vor allem die Winterbilder: »felder / von stoppeln durchstochen / rinnsal / dampfend toter schweine / im schnee«. Und immer wieder münden die Gedichte in Sentenzen, die mit dem eigenen Land abrechnen: »jeder stammtisch / wird vererbt«. Norbert C. Kaser war gewiss kein »Nestbeschmutzer«, wie es ewiggestrige Kritiker wahrhaben wollten, sondern ein unglücklich Liebender, von seiner Heimat ständig Zurückgewiesener. Das erklärt auch die schroffen Verrisse, mit denen er Südtirol bedenkt, so im »lied der einfallslosigkeit«: »geliebtes land / aus kuhglocken gebaut & / gasthausrauferei«.

Ähnlich verhält es sich wohl auch mit dem Verhältnis von Kaser zur katholischen Kirche. 1988, rechtzeitig vor dem Katholikentag, hatte ich in die Anthologie »Katholische Kindheit« mit einiger Besorgnis Kasers Skizze »erstkommunion oder die gewaltsame begegnung mit gott« aufgenommen. Damals schrieb ich im Anhang des bei Herder publizierten Buches, der Text überschreite »sicherlich die Grenze zur künstlerisch absichtsvollen Blasphemie«. Kaser, kein Zweifel, wollte provozieren. Aber dem vom Dichter inszenierten Ärgernis steht sehr oft der eigene, nie abgelegte Glaube im Weg, insbesondere die alten, frommen Bilder und die Heiligen, die mit ihren Legenden für den Autor so etwas wie eine spirituelle Heimat gewesen sein mögen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Gedichte »st. sebastian« (ein Heiliger, der durchaus zum versteckten Selbstporträt des Dichters taugt) und »martin, der soeldner«. Auch hier zieht Kaser Parallelen zum eigenen, desillusionierten Leben: »mein mantel ist groß / wie seiner / & kein bettler da / nicht einmal / Du / zum unterkriechen«. Bei dem Südtiroler Schriftsteller mischt sich die eigene Frömmigkeit mit dem Spott über die geheuchelte Frömmigkeit der Glaubensverwalter. Weder vor selbsterlittenen Klostererfahrungen (der Klosterspruch durch das Beichtgatter »riecht nach stockfischhungertuch«) noch vor den Friedenstauben (»die mausgrauen bazillentraeger / nesthaekchen des lieben / katholischen gottes«) macht dieser Spott Halt, der freilich trotzdem nie von seinem Gegenstand loskommt. An vielen, wenn nicht den meisten Gedichten Kasers lässt sich die Dialektik von Liebesentzug und Liebe festmachen…

Wer das gesamte literarische Schaffen von Kaser, seine Briefe eingeschlossen, kennenlernen möchte, sollte zu der dreibändigen Ausgabe greifen, die zwischen 1988 und 1991 bei Haymon in Innsbruck herausgekommen ist. Auf meinem Lyrikregal steht auch das Buch »Herrgottswinkel« griffbereit, 2005 im Münchner A1 Verlag erschienen. Die kluge, kenntnisreiche Gedichtauswahl des Bandes hat der Münchner Photograph Volker Derlath besorgt und das Vorwort dazu stammt von dem ehemaligen Künstlerseelsorger der Erzdiözese München und Freising, Georg Maria Roers SJ. Mit Kasers Gedichten treten die Schwarzweiß-Photographien von Derlath in einen spannungsreichen Dialog. Den abgesunkenen Devotionalien auf Antikmärkten, religiösen Graffiti, Kreuzen auf gefliesten Wänden, lieblos-zufällig dekorierten Wirtshausecken und beschädigten Christusfiguren wächst im Kontext der Lyrik von Kaser eine neue Strenge und Wahrhaftigkeit zu. Die Armseligkeit der Zeichen, ihre Abgenutztheit, wird plötzlich zur Herausforderung für unser modernes Bewusstsein – so wie die Texte des Südtiroler Dichters.

 

Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath
Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath

»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.

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