Neugelesen – Folge 1: Erich Jooß: »blues in der früh«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Wie lange lebt ein Gedicht? Vielleicht war es diese Frage, die Erich Jooß zu Beginn seiner Kolumne »Wiedergelesen« umtrieb. Die Antwort scheint indessen unmöglich. Die viel verehrte Sappho hält sich seit der Antike, obwohl kaum etwas von ihrer Person bekannt ist. Karl Krolows Gedichte hingegen verschwinden mehr und mehr aus dem kulturellen Bewusstsein, obschon er bis vor wenigen Jahrzehnten noch zum Schulkanon gehörte und die lyrische Öffentlichkeit maßgeblich mit bestimmte.

Wie lange überdauert ein Dichterleben? Im Falle von Erich Jooß waren es 74 Jahre. 74 Jahre voller Lyrik, nicht nur an der Seite von Anton G. Leitner – DAS GEDICHT und den Verlag stets mitgestaltend –, sondern auch als Münchner Turmschreiber, im Verlag Sankt Michaelsbund und an vielen weiteren Orten der Buch- und Textlandschaft. Die Kolumne »Neugelesen« wird in Zukunft seine Kolumne »Wiedergelesen« ersetzen.

Nun frage ich erneut: Wie lange leben Gedichte? Erich Jooßens Gedichte nun schon etwas länger als er selbst. So zynisch diese Worte noch erscheinen mögen, eigentlich ist es ein Grund zur Freude, denn dieses Schicksal widerfährt nicht allen Gedichten von verstorbenen Lyrikern. Und für mich ist es Anlass, seinen letzten Gedichtband »blues in der früh« (Edition Toni Pongratz, 2015) in meiner ersten Folge neu zu lesen.

Trotzdessen es kein Konzeptband ist, beginnt er, wie alles, mit der Kindheit: Kinder, die über einen Bahndamm laufen, aufgeregt, und nicht merken, wie »Schutzengelwarm« es in der Finsternis des vorüber rauschenden Zuges ist. Mich trifft dieses Bild. Eine Doppelbödigkeit zwischen Gefahr und Kinderei in nur zehn Versen, sie überrollt mich. Jene Wendungen sind es, die mich in vielen der Gedichte erfassen. Ein »Katzentraum«: was für Assoziationen überkommen den Leser des Internetzeitalters? Flauschige Knäuel, die niedlich dreinschauen oder etwas Lustiges machen möglicherweise – was wäre das Internet ohne Katzenvideos. Sind es aber nicht auch Raubtiere, die mit »ihren Krallen« »blutige Furchen durch die silberhellen Gärten« ziehen? Da ist noch einer dieser Momente, die Jooßens Verse in meinen Kopf impfen und mich gegen einseitige Perspektiven immunisieren. In dichter Atmosphäre, aber ohne komplizierte Artistik, vitalisieren sie uns Leserinnen und Leser, indem sie uns die Welt durch die Gedichte hindurch sehen lernen. Ich lese diesen kleinen Band wie persönliche Stellungnahmen, die sich in ihren Kehrtwenden übersteigen.

Gleichwohl ist »blues in der früh« nicht ein einziger, transzendenter Thriller. Leise Meditationen und melancholische Töne, die nicht melancholisch bleiben wollen, sind ebenso fester Bestandteil des Werks. Wie etwa in dem titelgebenden Gedicht »blues in der früh«. Es spielt jene Bluenotes an, die hörbar werden, wenn man unwiderruflich die Tür zum vergehenden Traum hinter sich schließt. Um diesen Moment in einen Text zu legen, muss er zuerst gesehen werden. Das macht Erich Jooßens Gedicht für uns. Aber doch: »draußen tönt / der morgen« hungrig. Und hungrig bleiben die Verse.

Was den Band zu gegebener Stunde besonders abrundet, sind zwei Dinge: Zum einen ist darin ein Herbstgedicht handschriftlich verewigt. Warum ausgerechnet dieses eine Gedicht, erschließt sich mir zwar nicht, aber es ist weitläufig unterschätzt, welchen Effekt Handschriften in Gedichten erzeugen. Zum anderen harrt bis zu Letzt ein Gruß aus der Vergangenheit: eine Originale Signatur von Erich Jooß. Diese Auflage ist auf 500 signierte und nummerierte Exemplare begrenzt, eine zweite Auflage wird es in dieser Form nicht geben können. Mein Exemplar ist bereits das 220. und ich bin froh, es in mein Bücherregal stellen zu dürfen, wo es hoffentlich irgendwann jemand neu- und wiederliest.
 

Erich Jooß
blues in der früh

Edition Toni Pongratz, 2015
41 Seiten
ISBN 978-3-931883-99-7
11,- €

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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