Wiedergelesen – Folge 13: »Die weisse Zeit« von Albert Ehrenstein

Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.

 

Der Kreis der expressionistischen Lyriker, die es in die Schullesebücher und in die kanonbildenden Anthologien geschafft haben, ist überschaubar. Albert Ehrenstein, Abkömmling jüdisch-ungarischer Eltern, gehört eher nicht dazu, obwohl er frühzeitig von Wien nach Berlin wechselte und schnell Kontakt fand zu Herwarth Walden und Franz Pfemfert. Er hielt sich im Zentrum des deutschen Expressionismus auf, lernte Else Lasker-Schüler und Franz Werfel kennen, gehörte später zum bereits dadaistisch angehauchten Kreis um Franz Jung, Georg Grosz und Johannes R. Becher, war vorübergehend als Lektor im tonangebenden Verlag Kurt Wolff tätig – und blieb doch eher eine literarische Randfigur, die an der literarischen Moderne in Deutschland mitwirkte, ohne besonders aufzufallen. Ähnlich zwiespältig wie seine Liebesbeziehung zu der Schauspielerin Elisabeth Bergner, die ihn benutzte und gleichzeitig zurückwies, verlief auch seine schriftstellerische Laufbahn. Die 1911 erschienene Erzählung »Tubutsch« – von Kokoschka, dem Freund selbst in schwierigen Zeiten, illustriert – wurde zwar ein Achtungserfolg und die nachfolgenden Lyrikbände enthielten das eine oder andere Gedicht, das aufhorchen ließ. Heute sind diese Gedichte aber weitgehend vergessen. Als die expressionistische Literatur den Reiz des Neuen verloren hatte und einer urban inspirierten Sachlichkeit weichen musste, beschäftigte sich Albert Ehrenstein, der Vielgereiste und Ruhelose, mit der Dichtung des Fernen Ostens, empfand chinesische Gedichte nach und erzählte Romane »frei nach dem Chinesischen«. Dadurch sicherte er sich endlich ein Publikum, bis bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auch diese Werke auf dem Scheiterhaufen landeten. Er wurde jetzt zum Exilautor wie so viele, und das unter äußerst prekären Lebensbedingungen und in wechselnden Ländern. 1949 versuchte Albert Ehrenstein vergeblich einen Neubeginn in Deutschland. Im Jahr darauf starb er, erschöpft und vereinsamt, nach zwei Schlaganfällen in einem New Yorker Armenhospiz. Seinem Bruder Carl Ehrenstein, ebenfalls Autor, der sich wenigstens zeitweise in England als Literaturagent und Übersetzer behaupten konnte, erging es nur unwesentlich besser.

Das Werk von Albert Ehrenstein gehört auf seine Weise zur deutsch-jüdischen Kulturgeschichte. Es liegt inzwischen in fünf (Auswahl-) Bänden vor, die zuletzt der Wallstein Verlag betreut hat. Eine Zusammenstellung der Gedichte Ehrensteins war bereits 1931 unter dem Titel »Mein Lied« in kleiner Auflage erschienen. Karl Otten hat dann 1961 mit dem Band »Gedichte und Prosa« bei Luchterhand erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg an den Dichter erinnert. Trotzdem kannte ich den Autor nur dem Namen nach, als ich in einem Antiquariat den Band »Die weisse Zeit« aus dem Regal zog. Das Buch war beim Georg Müller Verlag in München herausgekommen; mein signiertes Exemplar trägt die Nr. 181 von »dreihundert Exemplaren der einmaligen Auflage«. Eine weitere Auflage kam nicht zustande. Vielleicht war dies aber auch der Kriegszeit geschuldet, denn das Buch scheint nicht 1914, wie es das Impressum angibt, sondern aus mir nicht bekannten Gründen erst 1916 in die Auslieferung gekommen zu sein. Erstaunlich angesichts der winzigen Auflage sind die Ausstattung des Bandes in Halbleinen, auch das Format (23,5 x 29,5 cm) und das sorgfältige Druckbild, das den Gedichten viel Raum zugesteht. Den überraschenden Gesamteindruck vervollständigt noch der »Luxus« eines Lesebändchens.

»Großer expressionistischer Unglückswurm« – so lautet eine etwas saloppe, aber durchaus nachvollziehbare Charakterisierung Alfred Ehrensteins, die von Daniela Strigl stammt. Der Dichter selbst hat sich noch bildkräftiger beschrieben, mit einem Unterton, der nicht gar so weit entfernt ist vom Wiener Schmäh: »Ich bin ja nur ein armes Gurgelwasser im Rachen der Zeit.« Selbstmitleid und Selbstironie sind in den 71 Gedichten, die der Band »Die weisse Zeit« enthält, nur schwer voneinander zu trennen. Viele Texte (nicht alle) zeigen die typischen Merkmale des Expressionismus, der in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg die deutsche Literatur dominierte, nur um kurz darauf, mitten in dieser Menschheitskatastrophe, seine Kraft und vielleicht auch seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Davon ahnte Ehrenstein freilich noch nichts, als er die Gedichte schrieb. Mit theatralischer Gestik greift er zu den großen Bildern, wählt als bevorzugtes Stilmittel den Schrei (das Ausrufezeichen!), der gleichzeitig ein Aufschrei ist, und scheut vor keiner Überhöhung zurück.

Doch der erste Lyrikband kennt noch ganz andere Schattierungen. Da gibt es liedhafte Zeilen (»Schlafe tief, / der Weg ist blind« oder »Himmel blau und Himmel rot, / morgen sind wir alle tot!«), manches kommt im Bänkelton (»Seemanns Lied«) daher und manches gerät sogar zur deftigen Vorstadt-Poesie wie etwa der »Monolog« des »Erboberkellners« im Cafe‘ Sonett, der die Pseudodichter um ihn herum sarkastisch porträtiert: »Höchstens pumpen sie mich an, / die Schlankeln, die Literaten, / die in Manuskripten hausieren.« Solchen formal sehr unterschiedlichen Gedichten merkt man an, dass Ehrenstein in dem Band noch auf der Suche war. Bei anderen Texten geht der expressionistische Bürgerschreck mit ihm durch, wenn beispielsweise der »Nimmersatt wunderbar« Don Juan besungen und das »Morgengebet« ausgerechnet im Freudenhaus verrichtet wird. Dass dieses »Gebet« im Fortgang blasphemische Züge annimmt, verwundert nicht: »O Vater, … , der uns in lumpige Lust verstieß, / beschütze uns vor Syphilis.« Ebenfalls nur im Expressionismus denkbar sind Gedichttitel wie »Meteorisch hinschießen über irdische Bahn« oder »Flöhe zwitschern auf Gestirnen«. Das muss man nicht alles ernstnehmen, aber ernstnehmen sollte man den Dichter, wenn er sich ( hat er da vielleicht in seine Zukunft geblickt?) als »der Fröstelnde« auf einer »hartherzigen Erde« charakterisiert und resignierend festhält: »Real ist alles, nur die Welt ist’s nicht!« Das vorletzte Gedicht des Bandes, das Karl Kraus 1910 in der »Fackel« abdruckte, ist – obwohl es mit dem Titel »Wanderers Lied« auf Goethe anspielt – der Bildungspoesie so fern wie nur möglich. Daraus die dritte Strophe, die den Dichter bereits auf der Höhe des Expressionismus zeigt, obwohl der gerade erst begonnen hat: »Ich kenne die Zähne der Hunde, / in der Wind-ins-Gesicht-Gasse wohne ich,/ ein Sieb-Dach ist über meinem Haupte, / Schimmel freut sich an den Wänden, / gute Ritzen sind für den Regen da.« Gleich anschließend, in der ersten Zeile der vierten Strophe, heißt es dann lapidar: »›Töte dich!‹ spricht mein Messer zu mir.« Auch zu solchen illusionslos-harten Zeilen war Ehrenstein fähig.
 

Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath
Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath

»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.

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