Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 17: Empfindsamkeit, Material und Arbeit

Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.

 

Empfindsamkeit, Material und Arbeit

Wer auch nur oberflächlich zur Kenntnis nimmt, was ungefiltert als Lyrik durch die sozialen Medien geistert, findet neben jeder Menge Sprachklischees zahllose Statements zur Weltlage und viel Zärtlichkeit gegenüber den eigenen Gefühlen, gern drapiert mit Naturbildern. Das Problem dieser Produkte ist nicht ihr Dilettantismus, der kann unter Umständen ja auch mal genial sein. Das Problem ist die unverdrossene Hingabe an das Empfundene. Hingabe ist bedingungslos. Als Liebe vereinigt sie Getrenntes, und das muss auch so sein. Als Obsession des empfindsamen Gemüts aber bastelt sie sich Fetische, gleichgültig woraus, solange nur heftige Gefühle dabei herauskommen. Es gibt dazu ein Bild aus dem Vormärz, das Johann Peter Hasenclever gemalt hat und alles zeigt, was hier gesagt wird.

Die Lyrik erzeugt ebenfalls heftige Gefühle, aber anders als die Hingabe macht sie auch Arbeit, egal ob sie produziert oder rezipiert wird. Arbeit entsteht, wenn wir uns ein Material verfügbar machen müssen, wenn wir genötigt sind, mit bestimmten Gegenständen umzugehen, also zur Sache zu kommen und bei ihr zu bleiben. Diese Bedingtheit ermöglicht auch die Beurteilung der Arbeit: gut gemacht, weil … / schlecht gemacht, weil …. Problematisch wird es, wenn die obsessive Hingabe Kunst sein will. Denn sie scheut jenseits des kreativen Höhenrauschs, der bedingungslosen Phantasterei, die kein Richtig und kein Falsch kennt, die Mühen der Ebene, die Arbeit am Material. Diese Arbeit besteht darin, dem Einfall, dem Zugefallenen Verbindlichkeit zu verschaffen, ihn verdaulich und genießbar zu machen. Es ist wie beim Kuchenbacken: der angerührte Teig mit seinen unappetitlichen Zutaten (Mehl, rohe Eier, Treibmittel: man stecke sich mal je ein Löffelchen davon in den Mund …) muss in die ihm gemäße Form gegeben und dann unter kontrollierter Energiezufuhr ausgebacken werden. Das kann auch schon mal gründlich schiefgehen. D.h. die eigentliche Arbeit beim Schreiben wie beim Lesen der Lyrik ist diese am Material. Dazu braucht es emotionale Robustheit. Wer im Überschwang der Gefühle schon beim Brei der rohen Zutaten zulangt, verdirbt sich beim Backen den Magen und beim empfindsamen Lesen und Schreiben Verstand und Gefühle.

Lyrik ist also eher nichts für empfindsame Gemüter. Denn empfindsame Gemüter verzetteln sich im Glanz bzw. Elend der laufenden Ereignisse, zugleich zelebrieren sie ihre Gefühlswelt als Allerheiligstes. Sie sind im selben Maße außer sich, wie sie ganz bei sich sind. Die Frage jedoch, ob sie bei der Sache sind, stellt sich ihnen nicht. Damit auch nicht die Frage nach Gelingen oder Misslingen, nur die Lust des Hervorbringens zählt und wird mit Gelingen verwechselt. Was beim Kuchenbacken selbstverständlich ist, wollen empfindsame Gemüter beim Gedicht nicht wahrhaben. Denn beim Kuchen steht vor dem Gefühl die Geschmacksprobe. Beim Gedicht ist es umgekehrt.

Lyrik erfordert also nicht Empfindsamkeit, sondern im Gegenteil eine gewisse Robustheit, die ihrerseits jedoch nicht mit Rohheit verwechselt werden darf. Rohheit ist stumpfsinnig und neigt zu körperlicher Brutalität. Robustheit (ebenfalls nicht gleichzusetzen mit der modischen Resilienz, die lediglich eine Waffe im Konkurrenzkampf bezeichnet, damit nichts anderes als Fitness, also Angepasstheit bedeutet) ist erforderlich, um den Verlockungen des Glanzes bzw. Elends der laufenden Ereignisse sowie der eigenen Gefühlswelt zu widerstehen. Was geschieht, wenn solcher Widerstand fehlt, zeigt sich auf Johann Peter Hasenclevers Gemälde ebenso wie in sozialen Medien. Die Robustheit erst ermöglicht mir, von meiner eigenen Lust und Laune abzusehen und mich auf die Dinge einzulassen, auszumachen, was in der Welt vor sich geht und was meine Gefühle so veranstalten. Erst dann finde ich die passenden Worte (statt der sich aufdrängenden Klischees und Naturmetaphern), Worte, in die der für das entstehende Werk notwendige Fundus von Sprach- und Formmaterial eingeschrieben ist, das ohne verbindliches Arbeiten wirkungslos bleibt. Dieses Material ist das Kunstfremde, das das Werk im Falle seines Gelingens – im hegelschen Dreifachsinn – aufhebt.

Ihr Entgegengesetztes tragen sie [die Kunstwerke] in sich selbst; ihre Materialien sind geschichtlich und gesellschaftlich präformiert wie ihre Verfahrungsweisen, und ihr Heterogenes ist das an ihnen, was ihrer Einheit widerstrebt und dessen die Einheit bedarf, um mehr zu sein als Pyrrhussieg über Widerstandsloses. (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Ffm 1970, S. 512)

Derart verarbeitetes Sprachmaterial schafft durch seine Verbindlichkeit nicht etwa einvernehmliche Nähe, sondern Distanz, die wiederum durch Arbeit zu bewältigen ist.

In dieser Arbeit offenbart sich ein Moment des Unwahrhaftigen, das der allgemeinen Verkehrssprache, der Kommunikation innewohnt. Kommunikation gibt sich als Dienstleistung, als Information, als freier Markt der Möglichkeiten, doch sie spricht modal, sie sagt, was wir sollen, dürfen, müssen, was wir können, mögen und wollen sollen, sie macht uns Angebote, die wir nicht immer abschlagen können. Lyrik dagegen informiert nicht, macht keine Angebote, setzt keinen Modus. Sie ist bedingungslos, aber nicht wie die empfindsame Hingabe, die für Bedingungen blind ist, sondern weil in ihr die Bedingungen, unter denen ihr Material zu er- und bearbeiten ist, suspendiert sind. Sie kommt wie von ungefähr daher und ist doch das hoch vermittelte Einfache:

 

Drei Elfjährige

Der eine Elfjährige haut leeren Blickes
Einen verfaulten Ast gegen die Birkenstämme

Der andere Elfjährige ballt die Fäuste bleckt die Zähne
Rammt die rechte Ferse ins weiche Erdreich

Der dritte Elfjährige hebt einen Schotterstein auf
Und leckt daran

 

© Achim Raven

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt: Fehlgänge – Dreizehn Geschichten von der Rückseite des Möbiusbandes, Düsseldorf 2019, edition virgines. Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und 10 Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

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