Achim Raven veröffentlicht jeden zweiten Monat am 13. Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens.
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Mit Gewissheit werden Sachen zur Sprache gebracht. Im schlimmsten Fall besteht diese Gewissheit aus haltlosen Behauptungen, Schuldzuweisungen und Verschwörungserzählungen. Von sowas sind die sozialen Medien zum Platzen voll, deshalb muss nichts davon hier zitiert werden. All diesen Gewissheiten ist gemein der unerschütterliche Glaube an ihre offenbare Wahrheit. Begründet wird nichts, es gibt nur einen Mahlstrom von Beispielen und Gegenbeispielen, dessen Strudel jeden Zweifel in endlosem Geschwafel erstickt. Hier gilt nicht die Triftigkeit des Schließens, sondern die Findigkeit, um nicht zu sagen Kreativität bei der Suche nach immer mehr Beispielen.
Im besseren Fall ist die Gewissheit fähig, sich zu erklären. Solche Gewissheit hat nichts zu tun mit dem Glauben an eine offenbare Wahrheit, sie findet statt, wenn im wechselseitigen Erklären und Verstehen partikulare Sichtweisen kompatibel werden. Dies erzeugt und setzt gleichzeitig voraus ein Selbstbewusstsein und also einen Respekt, der die Auseinandersetzung lebendig hält und faule Kompromisse und Dogmatismus verhindert. Wissenschaften müssen solche Gewissheiten hervorbringen, ebenso seriöser Journalismus. Auch in der Politik sind sie möglich, wenn auch nicht die Regel, denn nach wie vor heiligt der Zweck die Mittel.
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Der Zweifel ist die Kehrseite der Gewissheit. Sie ist ohne ihn nicht zu haben und er nicht ohne sie. So werden durch ihn ebenfalls Sachen zur Sprache gebracht. Im schlimmsten Fall gilt er als Verrat an der offenbaren Wahrheit und dem unerschütterlichen Glauben daran, denn er ist nicht ausräumbar und macht die Peinlichkeit des selbstgefälligen Geschwafels von Beispiel und Gegenbeispiel kenntlich. Deshalb leben Zweifelnde manchmal gefährlich unter den Schwafelnden.
Im besseren Fall ist Zweifel der Motor des Verstehens und Erklärens. Durch ihn kann die Gewissheit sich ihrer selbst vergewissern. Er wird deshalb methodischer Zweifel genannt, denn er soll alles ausräumen, was zu den irrsinnigen Gewissheiten des schlimmsten Falls führt: die Täuschungen durch Sinne und Empfindungen, die Täuschungen durch wahnhafte Zustände, die Täuschungen durch einen Genius malignus, z. B. Trollfabriken. Sein Ziel ist es, am Ende sich selbst in der Gewissheit auszuräumen.
Dieser methodische Zweifel ist notwendig, aber keineswegs hinreichend. Denn erstens kann er an sich selbst irrewerden: wenn er versucht, sich selbst zu bezweifeln, aber ebenso, wenn er versucht diesen Selbstzweifel zu unterdrücken. Zweitens richtet er nichts aus gegen die Schwaflerinnen und Schwafler. Für sie ist der Zweifel zwar Verrat, aber genau diesen Verrat brauchen sie dringend, um sich bestätigt zu fühlen. Denn haltlose Behauptungen, Schuldzuweisungen und Verschwörungserzählungen benötigen den methodischen Zweifel zum Nachweis böswilliger Verleumdung, weil die endlosen Beispiele und Gegenbeispiele wegen ihrer Beliebigkeit keine Wahrheitsbeweise liefern können. Trotz seiner Ohnmacht bleibt der methodische Zweifel dabei aber eben ein notwendiges Instrument der Vernunft.
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Eine Kunst ist der Zweifel damit aber noch längst nicht. Das wird er erst, wenn er nicht mehr Sachen zur Sprache bringt, sondern umgekehrt die Sprache zur Sache kommen lässt. Die Kunst des Zweifels zweifelt nicht an der Sache, sondern an der Sprache, zu der die Sachen gebracht werden.
Allerdings nur, wenn er nicht in die Falle der Sprachskepsis tappt, die die Sprache erst gar nicht zur Sache kommen lässt, indem sie an ihrer vermeintlichen Unfähigkeit verzweifelt, die Sachen zu erfassen. Lustig daran ist, dass die Freund:innen der Sprachskepsis ihre Sache immer sehr eloquent zur Sprache bringen. Wäre die Sprache so untauglich, wie sie wähnen, gäbe es längst etwas Besseres, und sie würden vielleicht auch den Schnabel halten. Die Sprachskepsis möchte Probleme lösen, die es ohne sie gar nicht gäbe. Es kann also nicht darum gehen, ob die Sprache den Sachen gerecht werden kann, sondern lediglich wie gut oder wie schlecht. Bei solcher Gelegenheit stellt sich dann manchmal raus, dass der Zweifel an formulierten Gewissheiten neue Gewissheiten hervorbringen kann, von denen das Zursprachebringen nichts ahnt.
In seiner Glosse »Daran vergessen« (Die Sprache, München 1954, S. 27) erklärt Karl Kraus, dass in diesem banalen Austriazismus wegen seiner Parallelität zu »daran denken« das Nichterinnernkönnen oft genug ein gezieltes Nichtwahrhabenwollen ist – eine Feststellung, die bis heute nicht ohne politische Brisanz daherkommt.
In solchen Reflexionen kommt die Sprache zur Sache. Über den Zweifel, ob eine Formulierung so sein muss, wie sie ist, eröffnen sich erst die produktiven Möglichkeiten der Sprache jenseits ihres instrumentellen Gebrauchs. Der Zweifel verhindert, dass auf der Jagd nach Gewissheiten über Texte hinweggelesen wird. Er nötigt vielmehr dazu, jeden Text genau zu überprüfen auf das, was er sagen soll, was er besser nicht sagen soll, und was er tatsächlich sagt. Der Zweifel leistet das, woran die meisten Sprachuser vergessen. Wie ein Kind hüpft er von Textstelle zu Textstelle und prüft, ob sie jeweils den sicheren Stand bietet, der nötig ist, um noch weiter und höher hüpfen zu können. Dieser Zweifel ist kritisch und albern zugleich, er ist spielerisch. Wer in der Fackel die Glossen von Karl Kraus liest, wird immer wieder diese Gleichzeitigkeit von zupackendem Ernst und Albernheit bemerken. Beispielhaft hierfür ist folgender Beginn (Die Fackel 404, 5.12.1914, S. 1 f., siehe auch https://fackel.oeaw.ac.at):
In dieser großen Zeit
die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht –; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und, sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung bewahrt. […]
Dieser Glosse über den Kriegsausbruch 1914, die beileibe nicht lustig ist, wenn sie mit ihrer sprachlichen Verve den Ernst der Ernstmacher unterläuft, liegt eine gallige Albernheit zugrunde, ein an Johann Nestroy geschulter Sound, der sich dem Marxschen Bonmot verdankt, dass das ursprünglich Tragische stets als Farce zurückkehrt. Die von Kaiser Wilhelm II. gern genutzte Phrase von der »großen Zeit« wird hier nach allen Regeln der Kunst in einen Zweifel gezogen, der immer weiter und höher hüpft, geradewegs zur »dicken Zeit«, so dass in der sprachlichen Hohlheit sukzessive das Entsetzliche wahrnehmbar wird.
Dieser radikale Zweifel am Dahingesagten ist kein methodischer Zweifel, er ist so konsequent wie spielerisch und damit Kunst, denn nur die Kunst verbindet Spiel und Konsequenz, indem sie das Unverbindliche hinwegspielt.
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Die Nr. 888 der Fackel vom Oktober 1933 ist angesichts der damaligen Ereignisse in Deutschland die einzige Ausgabe des Jahres, sie umfasst dazu nur vier Seiten, und sie enthält das folgende Gedicht:
Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.
Eigentlich sagt hier jemand doch nur, dass er nichts sagt, weil es ihm die Sprache verschlagen hat. Aber warum sagt er das? Rechtfertigen will er sich offensichtlich auch nicht. Ist das Trotz aus Gekränktheit, ist das die Eitelkeit einer öffentlichen Person, die vor allem auf sich aufmerksam machen will? Das wäre bloß ein Attitüdengekasper, das sich zur Sprache bringt.
Tatsächlich aber kommt hier die Sprache zur Sache. »Man frage nicht …« wirkt zunächst wie eine abgeschmackte Theatergeste: ein Handrücken ruht auf einer Stirn, und ein weher Blick weitet sich ins Unendliche, die andere Hand macht wie beiläufig eine abwehrende Geste. Jener, der hier spricht, ist zwar theateraffin, aber kein Schmierentragöde. Denn dieses »Man« ist nicht das konventionelle, diffuse Man der Benimmregeln, es ist das definitiv Unpersönliche, das im 6. Vers noch einmal auftaucht und vollends klar macht: Es gibt nur noch ein grammatisches Subjekt, kein personales mehr, zwischen der ersten Person Singular und der zweiten Person Plural ist kein Unterschied mehr, nachdem das Ich verstummt und nach dem Krachen die Stille eingekehrt ist, ein Zustand des Schlafes, der Bewusstlosigkeit. Aus dem Schlaf kommen noch Wörter, aber sie treffen nicht mehr, ihr Zeichencharakter löst sich auf, weil der gesellschaftliche Zusammenhang, der sie hervorbringt, sich auflöst.
Was bleibt, ist der Traum, in dem Subjekt und Objekt ineinander verfließen. Dieser Zustand ist kein Nirwana, keine Gemütsruhe, sondern ein Koma, das totale Defizit. Nur im Traum, dem subjekt- wie objektlosen Begehren, erscheint noch flüchtig das Bild der Sonne als sprachlich genau bestimmtes Glückssymbol: Das Lachen ist hier nicht Attribut, sondern absichtsvolle Tätigkeit. Die »Sonne, welche lachte« ist eine letzte, kaum mehr kommunizierbare Erinnerung daran, wie die Sprache zur Sache kommen könnte. Doch: »Es geht vorbei; / nachher war’s einerlei.« Das bezuglose »Es« gibt Rätsel auf: Was geht vorbei, was wird differenzlos, gänzlich unbestimmt, gleichgültig (»einerlei«) gewesen sein? Dieses »Es« ist noch weniger als das »Man« in den Versen davor, es ist nur noch der Platzhalter eines Subjekts, es markiert die »Furie des Verschwindens« (Hegel). Was bleibt, ist ein rosa Rauschen, denn: »Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.« Es ist das Wort, das am Anfang war, der Logos. Damit ist auch der Ursprung suspendiert. Was bleibt, ist die hilflose sprachliche Geste aus dem Traum, die sich durch das Demonstrativum »jene« vergeblich von der »Welt« zu distanzieren sucht, in der die Furie des Verschwindens wütet.
In diesem Gedicht ermöglicht die Kunst des Zweifels nichts weniger als ein poetisches Bild der finalen Katastrophe ohne jedes apokalyptische Gefuchtel. – So gar nichts fürs Gemüt.
© Achim Raven, Düsseldorf

Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und zehn Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.