Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 18: Lyrik im Krieg – z.B. Karl Kraus (1871 – 1936)

Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.

 

Lyrik im Krieg – z.B. Karl Kraus (1871 – 1936)

 

Vallorbe

(Mai 1917)

Du himmlisches Geflecht, du Glockenblumenkorb,
Ursprung der Orbe, der Welt, du unversehrtes Ziel,
du Wonnewort Vallorbe, das in den Mai mir fiel,
du Thal der Thäler du, traumtiefes Thal der Orbe!

Du Sonntag der Natur, hier seitab war die Ruh.
Ursprung der Zeit! So hat, da alles war geglückt,
der Schöpfer diesen Kuß der Schöpfung aufgedrückt,
hier saß der Gott am Weg zum guten Lac de Joux.

Du Gnade, die verweht den niebesiegten Wahn,
wie anders war es da, und da entstand die Zeit,
dieweil sie staunend still stand vor der Ewigkeit.
Wie blau ist doch die Welt vom Schöpfer aufgethan!

(Werke Bd 7, Worte in Versen, München 1959, S. 184)

 

Ort und Datum des Gedichts haben jeweils einen doppelten Bezug: Der friedliche Ort Vallorbe im Schweizer Jura ist das unmittelbare Gegenbild zu dem besinnungslosen Kriegsirrsinn in den Nachbarländern Frankreich und Italien, losgetreten von Deutschland und Österreich.

Bei Entstehung des Gedichts hatte der industrialisierte Krieg seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Schauplätze der so genannten Materialschlachten, in denen auch Hunderttausende Soldaten als „Menschenmaterial“ verschlissen wurden, sind bis heute sprichwörtlich: Verdun, Skagerrak, Somme, Isonzo. Ebenso das unmenschliche Leiden an den Fronten und im Hinterland. Der deutsche Hungerwinter 1916/17, die Lawinenkatastrophe im Alpenkrieg vom Dezember 1916, die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkrieges im Januar 1917, die Verwüstungen, die Deutschland Anfang 1917 in Nordostfrankreich beim Rückzug auf die so genannte Siegfriedlinie hinterließ, sind damals in frischer Erinnerung. Im Februar ist die russische Revolution ausgebrochen, im April sind die USA in den Krieg eingetreten. Und während Kraus sich im Schweizer Jura aufhält, tobt die Zehnte Isonzoschlacht, bei der 17.000 österreichisch-ungarische und 23.000 italienische Soldaten zu Tode kommen.

Karl Kraus sichtet täglich die Zeitungen und sammelt Material für seine Zeitschrift Die Fackel und bereits seit 1915 für sein monumentales Drama Die letzten Tage der Menschheit, das unmittelbar nach dem Krieg erscheint. Zwischen dem 5. 12. 1914 und dem 10. 5. 1917 erscheinen 47 Nummern der Fackel in 13 Heften, das sind 1140 Druckseiten, die Kraus allein verfasst.

Zum Gegenbild des Ortes gehört Kraus’ Gegenbild der Zeit. Der Mai 1917 ist durch und durch geprägt vom Kriegsgeschehen. Das Sensorium für den rasenden Wahnsinn dieser Gegenwart entwickelt Karl Kraus mit den Erinnerungen aus den figürlichen Achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die er in seinem Gedicht Jugend beschwört. Die Phase zwischen seinem 10. und seinem 20. Lebensjahr wird ihm zum Maßstab für alles Spätere, und von diesem Maßstab her entwickelt er den Leitsatz seines Denkens: Ursprung ist das Ziel.

 

Jugend

[…]

In trüber Lebensluft
voller Gefahren
ahn’ ich den Gartenduft
aus frühen Jahren.

[…]

Gern den gebührlichen
Dank will bewahren
jenen figürlichen
Achtziger Jahren!

[…]

Jünger bin ich als jung,
leb’ ich im Alten.
Welche Erneuerung!
Welches Erhalten!

Zieht in der Zeiten Kluft —
ich wohne besser,
bau’ ich mir in die Luft
brüchige Schlösser!

Blick’ ich nur aus von dort
in eure Fenster,
ruft euch mein Zauberwort:
seid ihr Gespenster!

[…]

Rückwärts mein Zeitvertreib!
Jugend erst werde!
Länger als ihr verbleib’
ich auf der Erde!

[…]

(Worte in Versen, S. 178 ff.)

 

Diesen figürlichen Achtziger Jahren ist Kraus derart verbunden, dass er nicht nur die strengen Regeln für Metrum und Reim aus dem langen 19 Jahrhundert anwendet, in der Rechtschreibung beharrt er auf dem th, das seit der Orthographischen Konferenz von 1901 bis auf wenige Ausnahmen längst abgeschafft war. So schreibt er in der Zeit gegen die Zeit.

Kraus’ Konservatismus ist freilich kein restaurativer, der irgendein ancien régime mit seinen Restriktionen und Privilegien wiederherstellen oder übertrumpfen will. Er erinnert eher an Ernst Blochs Ontologie des Noch-Nicht-Seins, allerdings auf eine spezifische Weise: Die Vergangenheit, jene figürlichen Achtziger Jahre, sind ihm der Vorschein eines noch nie Dagewesenen. Nicht jedoch, weil sie etwas antizipiert hätten, sondern weil sie die Vorstellung einer Zeitlosigkeit ermöglichen, des Zustands unmittelbar vor dem Wort, das am Anfang war, dem logos. Dieser Zustand ist der Zeitlichkeit enthoben, er ist immer – wenn auch ebenso grund- wie folgenlos – möglich. Karl Kraus nennt ihn im Gegensatz zum Anfang Ursprung. Innerhalb der Zeit, der Geschichte also, sind im Wort, in der Sprache Herrschaft / Manipulation und Wahrheit / Verstehen, Verbrechen und Unschuld, unauflöslich ineinander verschmolzen. Der logos ist dadurch in Kraus’ Ausdrucksweise geschändet. Nur wenn sie den Ursprung findet, ist die Sprache wahr, verfehlt sie ihn, wird sie zur Phrase.

1919 schreibt Karl Kraus zum 20-jährigen Bestehen der Fackel:

 

Nach zwanzig Jahren

[…]
Und hinter allem der entsühnte Mensch,
der magisch seine Sprache wiederfindet.
Ein Irrgang seiner bangen Zeitlichkeit,
der Leichenfelder streift und Paradiese,
ist diese Welt des Worts, so bunt an Stoff
wie voller Irrtum. Aber was im Ursprung
jeweils das Angesicht der Wahrheit trug,
es wird die Zeit am Ende Lügen strafen.
[…]

(Nach zwanzig Jahren, Worte in Versen, a.a.O., S. 259)

 

In der Vorstellung des Ursprungs überschneiden sich Messianismus und Apokalyptik: Die flüchtigen Momente der Ursprünglichkeit, in denen der logos als Sprache sich aus den instrumentellen Verfilzungen befreien kann, sind Momente der Erlösung, die in einem Weltgericht (Karl Kraus) die Zeit am Ende Lügen strafen, die Geschichte als Akkumulation von Phrasen verurteilen werden. Diese Momente der Ursprünglichkeit finden sich am ehesten in der Lyrik, die sich selbst Zweck und Mittel ist, so dass die Sprache zu sich selbst kommt.

 

Auch mir sang Philomele, oh, sie rief
mich aus dem Stoff, der heillos mich bedrängt,
eh ich ihn meistre. Aber Schönheit war,
wo mir die Sprache zu Gefallen war,
und alles lyrische Geheimnis ist
mir auch im widrigsten Geräusch erschlossen.
Lyrik ist alles, was am tiefsten Grund,
mögt oben ihr die Widersprüche lesen,
identisch wird zu immer neuem Wesen,
aus Klang und Ding ein unlösbarer Bund.

(ebd. S. 256)

 

Im Ursprung sind alle Widersprüche aufgehoben, die verhängnisvolle Historie setzt im Gedicht für einen kurzen Moment aus: Vallorbe.

In der ersten Strophe des Vallorbe-Gedichts ist das Thal der Orbe ein himmlisches Geflecht, ein Glockenblumenkorb. Traditionell symbolisiert die Glockenblume Eintracht, im himmlischen Geflecht klingt das Sonnengeflecht an, das einmal als Sitz von Sympathie und Eintracht galt. Solches Übermaß an Harmonie kennzeichnet das Gedicht auch formal, Assonanzen und Alliterationen, ein reicher Vokalismus und ein ausgewogenes Verhältnis der konsonantischen Klänge tragen das Gedicht und markieren zum einen auch den negativen Bezug auf das Kriegsgeschehen. Zum anderen bedeutet dieses Übermaß auch eine Art Überdeterminierung, wie sie etwa das Traumgeschehen bestimmt, sie verweist auf mannigfache unbewusste Elemente, die sich in verschiedenen Bedeutungsreihen anordnen, von denen jede auf einem bestimmten Deutungsniveau ihren eigenen Zusammenhang hat. Wie die Sprache überhaupt ist sie durch Verschiebungen und Überlagerungen von Bedeutungen konstituiert […]; es ist niemals das einheitliche Zeichen eines einzigen […] Inhalts, ebenso wie das Wort nicht auf ein Signal reduziert werden kann. (Laplanche, Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 544 ff.) Vor diesem Hintergrund ist auch die seltsame Wendung traumtiefes Thal verstehbar, ebenso die assoziative, aus dem bloßen Gleichklang erzeugte Gleichsetzung des Flusses Orbe mit dem lateinischen orbis (Erd- oder Weltkreis).

Das unversehrte Ziel, das in den Mai mir fiel verknüpft durch seinen Reim den Ursprung mit dem Glücksfall, denn das Grund- und Folgenlose ist unberechenbar. Da ist es auch gleichgültig, wenn Kraus vom Faktischen abweicht und das Wonnewort im Wonnemonat erklingen lässt: Nach Vallorbe reist er tatsächlich erst im Juni 1917. Die Wahrheit der Sprache muss nicht der Wirklichkeit entsprechen, denn umgekehrt ist es genauso.

Ist die erste Strophe noch geprägt vom Erlebten, wechselt die zweite Strophe vollends ins Mythische: Seitab, da, wo nicht der Krieg tobt, hat sich der siebte Tag der Schöpfung erhalten, der heilige Schabat, der Tag der Vollendung. Der Schöpfer küsst sein Werk, das ist kein christlicher Gott, auch kaum ein jüdischer, dieser Gott empfindet lustvollen Gefallen an dem, was er geschaffen hat. Dann löst Kraus sich völlig von der christlich-jüdischen Tradition, in der GOtt zuweilen sogar mit Doppelmajuskel geschrieben wird und niemals einen Artikel hat. Doch hier saß  der  Gott am Weg. Es scheint es sich um einen jener Augenblicksgötter zu handeln, über die Ernst Cassirer schreibt: plötzlich hervortretende, aus der Not des Augenblicks oder aus einem ganz bestimmten momentanen Affekt geborene Geschöpfe, die aus der Reizbarkeit der mythisch-religiösen Phantasie entspringen und in denen diese sich noch in ihrer ganzen ursprünglichen Beweglichkeit und Flüchtigkeit offenbart. (Ernst Cassirer, Sprache und Mythos, 1925, S. 51) Derartig ephemere Götter passen besser zur Idee des grund- wie folgenlosen Ursprungs, sie herrschen nicht und sie richten nicht, sie zeigen nur, dass es gut ist am Weg zum guten Lac de Joux.

Die Gnade des Augenblicksgottes kann nur eine Augenblicksgnade sein, sie verweht den niebesiegten Wahn nur für den Augenblick, in dem alles anders war, in dem die Zeit staunend still stand vor der Ewigkeit, bevor sie entstand. Der Wechsel vom Präsens ins Präteritum zeigt an, dass diese Gnade präsent ist und zugleich vor der Entstehung der Zeit liegt, das unauflösbare Paradox des Ursprungs. Und so ist auch die Welt vom Schöpfer längst erschaffen und zugleich ein Noch-Nicht-Sein. Und aufgethan bedeutet allein schon wegen des th nicht „zugänglich gemacht“, sondern „offenbart“. Diese Offenbarung, nicht die Welt, ist blau, also ebenso lebensfreundlich wie unendlich. Die Welt ist es noch nicht, vielleicht wird sie es niemals sein.

Karl Kraus hat ein Antikriegsgedicht besonderer Art geschrieben. Es bemitleidet nicht, es klagt nicht an, es fordert nichts. Diesen Impulsen widersteht es, hier wird nicht  über  die Dinge gesprochen. Er sucht eine Sprache, die sich nicht gemein macht mit dem Krieg in den Köpfen, der auf den Schlachtfeldern ausgetragen wird. Er entwirft ein Bild des Friedens, das allein durch seine sprachliche Gestalt Bestand hat, die den niebesiegten Wahn beim Namen nennt. Das ist alles, was ein Gedicht leisten kann: in seiner Ohnmacht beharren. Was nicht heißt, dass Dichterinnen und Dichter es sich in dieser Ohnmacht gemütlich machen dürfen. Auch dafür steht Karl Kraus: Mit seiner Fackel hat er 37 Jahre lang durchaus wirkungsvoll den Kultur- und Politikbetrieb mit Satiren, Polemiken und Prozessen überzogen. Er war beides, Dichter und Instanz.

 

© Achim Raven

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt: Der Ernst des Unernstes kommt vom Unernst des Ernstes, Düsseldorf 2022, edition virgines. Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und 10 Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

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