Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.
Bilder bilden, Texte texten, unordentlich die Poesie
Befasst man sich mit Bildern und mit Texten, sind die Unterschiede offensichtlich.
In der Sprache sichern semantische und grammatische Regelwerke die Vermittlung bestimmter Bedeutungen und helfen Missverständnisse zu vermeiden. Sprache kann genau benennen („Sparschäler“), definieren („ein Fahrrad oder einem Fahrrad gleichgestelltes Fahrzeug, das dem Transport von Lasten oder Personen dient“) oder Handlungsanweisungen geben („Einzeln eintreten!“). Da muss man aufpassen. Bilder haben dagegen den Vorteil, dass sie immer einen intuitiven Zugang erlauben. Da muss nicht erst ein Regelsystem nachvollzogen werden. In vielen Fällen können Bilder emotionale Aspekte besser vermitteln als Texte, da sie direkt über unsere Sinne wirken: Sie produzieren Erlebnisse. Zwar gibt es auch Bildsemantiken und -grammatiken, doch die sind viel subjektiver und geschmeidiger als die Regulierungen der Sprache. Deshalb gibt es für die professionelle Textproduktion auch Lektorate, in der Bildproduktion wäre so etwas undenkbar.
Bilder beeindrucken, kriechen durch die Empfindung (griech.: αἴσθησις, aísthēsis) in die Erinnerung, prägen sich ein und verschaffen dem Verstand sein Material. Bilder wird man kaum wieder los. Sie prägen, das Ergebnis ist Bildung. Texte haben ‒ abgesehen von ihrer bloßen Hör- bzw. Sichtbarkeit ‒ keine primären sinnlichen Qualitäten. Ihre sinnliche Qualität muss eigens hineingelegt werden (durch stimmliche Modulation bzw. typografische Hervorhebung) und erschließt sich erst, wenn der Verstand sie dechiffriert hat. Bilder vermitteln sich direkt durch ihre sinnliche Anmutung, Texte müssen das, was sie vermitteln sollen, erst über ihr Regelwerk konstruieren. Texte texten. Sie informieren, das Ergebnis ist Wissen. Und das auf zweierlei Weise: Wenn ich einen Bleistift hochhalte und als Bleistift bezeichne, wissen alle Bescheid. Der Begriff des Bleistifts dagegen erfordert zusätzliches Wissen über die Beschaffenheit der Mine und des Schaftes, nur mit diesem Begriff lässt ein Bleistift sich von anderen Gerätschaften triftig unterscheiden. Um Texte zu erstellen und zu verstehen, muss immer einigermaßen klar sein, ob mit Bezeichnungen oder mit Begriffen gearbeitet wird. Im Satz „Die Sonne scheint“ geht es um das Erlebnis schönen Wetters, wenn „Sonne“ als Bezeichnung verwendet wird. „Sonne“ als Begriff macht „das Scheinen“ zum Wesensmerkmal, dadurch ist sie inhaltlich gefüllt und somit begreifbar.
Das Bild ist da buchstäblich einfacher, es kann zeigen, aber nicht begreifbar machen. Da muss erst wieder die Sprache beispringen. Lediglich die Allegorie scheint Begriffliches darstellen zu können, indem Abstrakta auf Bildzeichen übertragen werden, doch erzeugt sie damit lediglich den Anschein von Anschaulichkeit. Denn zum einen ist die Übertragung eine willkürliche Zuweisung, zum anderen ist diese Zuweisung im Vergleich zu den Möglichkeiten begrifflicher Sprache ein sehr plumpes Unterfangen, eher auf einen blendenden Effekt als auf Erkenntnis ausgerichtet.
Es gibt also eine Grenze zwischen Text und Bild, aber die ist durchlässig, und je näher man hinschaut, desto durchlässiger erscheint sie. Beide Seiten können sich ins andere Territorium vorwagen, sie können komplexe Verbindungen eingehen: Bilderzählungen und Textbilder. Was jedoch nicht möglich ist, obwohl manche wohl daran glauben, dass sich das eine ins andere übersetzen lässt. Piet Mondrians Gemälde lassen sich mit Farbadjektiven, geometrischen Begriffen und metaphysischer Gelehrsamkeit nicht nacherleben, Georg Christoph Lichtenbergs „Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlt“, erlaubt keine unmittelbare Abbildung. Trotz struktureller Ähnlichkeit als semantische Systeme lassen sich Bild und Text nicht gleichsetzen, sie sperren sich gegeneinander, führen einander ad absurdum und können doch wunderbar harmonieren, wenn man ihnen jeweils lässt, was sie am besten können. Bilder bilden, indem sie Erlebnisse produzieren. Texte texten, indem Bezeichnungen bezeichnen und Begriffe begreifen.
Man kann indes noch so schön differenzieren – Text und Bild, Bezeichnung, Begriff und unmittelbare Anmutung – im alltäglichen Hirngetümmel geht dann doch wieder alles durcheinander. Der Grund dafür kann Desinteresse oder Konzentrationsmangel sein. Genauso gut kann der Grund aber auch in dem Impuls liegen, Grenzen zu überschreiten, getrennte Territorien zu verbinden. Von diesem libidinösen Impuls leben schließlich die Künste, die ja alle komponieren (=zusammenfügen). Und so kommt es bei all dem Zusammenfügen zwangsläufig dazu, dass wir uns von Bildern etwas erzählen lassen, selbst von den subjektivsten und abstraktesten, und dass wir uns vom Sound der Sprache und der Gestalt der Schrift betören lassen, so dass Bilder Texte bilden und Texte Bilder texten. Wir sehen, was wir lesen, und wir lesen, was wir sehen.
Diese konfusen Verhältnisse sind der logische Ursprung der Lyrik: Eine instabile Gemengelage aus inneren Bildwelten, strengen Sprachregulierungen (die ja die Verstöße gegen sie immer gleich mitproduzieren), schwankende Konzentration und Libido. Wenn es gut geht, entsteht Poesie daraus, anderenfalls scheitert sie. Erfolg ist nicht garantiert, nur weil alles richtig gemacht wurde. Das unterscheidet die Kunst von allen anderen Formen der Produktion.
Solche Poesie muss nicht Lyrik sein. Kann aber.
VERMÄCHTNIS
Der Zwist der Schädelforscherinnen tobt
Bis mühsam eingesprühte Propellerzonen
Ausgelaugt verwelken
Bis Männer missgelaunt veralgen
Und das Blöken der Schnippchen obsiegt
Lächelnde Hirntaucherinnen
Schmeicheln sich selbst
Vermächtnis der Schädelhirnpflege
© Achim Raven