Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.
Der Körper liest mit
Lesen ist eine Kulturtechnik, die uns erlaubt, Zeichen zu deuten. Diese Kulturtechnik kann an buchstäblich allem ausprobiert werden, weil ja alles ein Zeichen sein könnte, ein Hinweis auf Höheres oder Tieferes.
„[…]
An der Liebe Busen sie zu drücken,
Gab man höhern Adel der Natur,
Alles wies den eingeweihten Blicken,
Alles eines Gottes Spur.
[…]“
(Friedrich Schiller, Die Götter Griechenlands)
Auf diese Weise entstehen Esoterik, Religion und Kunst, aber auch analytisches und dialektisches Denken. Das Zeichen verweist immer auf ein außer ihm bestehendes Substrat (das Bezeichnete), dessen Beschaffenheit ihm gleichgültig ist. Es kann auf die Wirklichkeit verweisen, sogar auf die Wahrheit, doch selbst wenn es Fiktionen erzeugt, d.h. wenn es ins Leere bzw. auf Einbildungen weist, bleibt es ein Zeichen. Selbst die Lüge ist ein Zeichen, die ihr Substrat mit hinterhältiger Absicht vortäuscht. All diese Zeichen können gedeutet werden, die Qualität der Deutung spielt eigentlich keine Rolle.
Nicht nur das Zeichen, auch seine Deutung verweist auf ein Substrat: den Körper. Denn es ist von entscheidender Bedeutung, dass der Lesevorgang in einem bestimmten Körper stattfindet, über dessen kognitive Möglichkeiten hinaus immer der aktuelle leibliche Zustand den Lesevorgang entscheidend mitbestimmt. Ein müder oder satter Körper liest anders als ein wacher oder ein hungriger. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass in den Naturwissenschaften das Ideal des körperlosen Lesens gelten muss. Ohne Absehen von der körperlichen Befindlichkeit der Forschenden sind valide Resultate nicht möglich. Um diesen Zustand auch nur näherungsweise zu erreichen, sind äußerst komplizierte Prozesse notwendig. Anders ist es in den dialektischen Wissenschaften, z.B. der Hermeneutik, die das physische Subjekt mehr oder weniger in den Erkenntnisprozess einbezieht.
Die Kulturtechnik des Lesens wird im Allgemeinen als rein kognitiver Vorgang begriffen. Das hat seine Gründe wahrscheinlich im Leitbild der Wissenschaftlichkeit und in der Praxis des stummen Lesens – Kinder werden schon früh ermahnt, beim Lesen die Lippen geschlossen zu halten, statt die Wörter nachzuformen. Dabei kann das Lesen gar kein rein kognitiver Vorgang sein, denn Spannung oder Langeweile sind immer dabei, jedes Gelesene erzeugt zudem spezifische Gefühle und Wünsche. Und wenn es der Wunsch ist, sich möglichst schnell etwas anderem zuzuwenden, weil ein Text zu „trocken“ (!) ist.
Lesen, die Deutung von Zeichen, war immer schon eine körperliche Tätigkeit, wahrscheinlich ist es entstanden aus schamanischen Ritualen, bei denen der Körper sogar noch zusätzlich stimuliert wurde, um die Zeichen zu erfassen. Stimme und Atem spielten dabei eine zentrale Rolle, als Stimulans, als Gesang, als Sprache. Diese archaischen Elemente haben sich modifiziert erhalten, denn Stimme und Atem sind immer noch beteiligt beim Lesen, denn wir können es nur lernen, indem wir vorgelesen bekommen und selbst vorlesen. Nicht zufällig sind die wichtigsten Lehrveranstaltungen an Hochschulen immer noch die Vorlesungen. Die historischen Spuren dieses Lesens sind im stummen, „erwachsenen“ Lesen nicht getilgt, denn wir können das Zusammenwirken von Stimme und Atem jederzeit reaktivieren. Und wir tun es oft genug, wenn uns nicht ein Gefühl der Peinlichkeit daran hindert.
Die Lyrik lebt von diesem körperlichen Anteil des Lesens, selbst wenn sie stumm gelesen (und auch geschrieben) wird. Der Vers ist ja im Gegensatz zur Zeile eine Atemeinheit, vor allem, wenn er an ein festes Maß gebunden ist. Es gibt (mit 14 bis 17 Silben und sechs Hebungen) den langen Atem:
„Sing’, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung,
Die der Messias auf Erden in seiner Menschheit vollendet,
Und durch die er Adam’s Geschlecht zu der Liebe der Gottheit,
Leidend, getödtet und verherrlichet, wieder erhöht hat.
[…]“
(Friedrich Gottlieb Klopstock, Der Messias Erster Gesang)
Es gibt (mit zwei bis drei Silben und einer Hebung) den kurzen Atem:
„Aus Moor-
Gewimmel
Und Schimmel
Hervor
Dringt, Chor,
Dein Bimmel-
Getümmel
Ins Ohr.
O höre
Mein kleines
Sonett.
Auf Ehre!
Klingt deines
So nett?“
(Johann Heinrich Voß, Klingsonate 2. Scherzando)
Und es gibt (zehn bis elf Silben und fünf Hebungen) den mittleren Atem, der dem natürlichen entspannten Ausatmen am nächsten kommt.
„Im weiten Mantel bis ans Kinn verhüllet,
Ging ich den Felsenweg, den schroffen, grauen,
Hernieder dann zu winterhaften Auen,
Unruh’gen Sinns, zur nahen Flucht gewillet.“
(Johann Wolfgang von Goethe, freundliches Begegnen)
Der Atem ist buchstäblich das Maß des Lesens, in der Lyrik spielt dieses Maß eine entscheidende Rolle. Denn das Lesen von Lyrik ist in erster Linie ein Vorlesen, das eigene Ansprüche stellt, denen das gelegentliche Vorlesen einer Zeitungsnotiz für jemand, der gerade Kartoffeln schält oder sich die Zähne putzt, nicht gerecht wird. Diese Ansprüche bestehen darin, das Gewicht der Worte in ihrem klanglichen und rhythmischen Zusammenhang spürbar zu machen, was übrigens nichts mit Pathos oder Überartikulation zu tun hat. Um ihnen gerecht zu werden, empfiehlt es sich, zunächst mit gebundenen Metren zu arbeiten. Dann gelingen auch die weitaus schwierigeren freien. Beim Vorlesen ist nicht nur darauf zu achten, dass man sich nicht verliest, sondern im selben Maß darauf, dass man sich nicht veratmet. Weder darf einem mittendrin die Luft ausgehen, noch darf man ins Japsen geraten. Und schon gar nicht darf man dem Metrum blind hinterher leiern. Nur so entsteht der lyrische Flow, der Lesen und Hören zum Vergnügen macht. Dazu kann es hilfreich sein, Lesepausen ins Textblatt einzuzeichnen. Auf diese Weise lernt man auch, beim Vorlesen weniger auf die einzelnen Bestandteile des Gedichts zu achten. Vorlesen gelingt dann, wenn sich binnen Sekunden herausstellt, dass man im Flow ist. Nur wenn das Gedicht wie von selbst fließt, werden Lesen und Hören zum Vergnügen. Da kann es sogar vorkommen, dass Gedanken und Gefühle abschweifen. Dem Publikum sei dies gegönnt, es geht ja nicht um Informationen. Lesende jedoch müssen aufpassen, sie müssen bei der Sache sein. Das heißt vor allem: die Körperspannung halten, insbesondere die der Gesichtsmuskeln, allein schon um der Artikulation willen.
Nicht zufällig erinnert dies daran, was Schauspieler:innen tun. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied: Die Schauspielkunst besteht daran, aus dem eigenen Körper eine Figur zu entwickeln, einen Rollenkörper, der das eigene und das Fremde überzeugend verbindet. Beim Vorlesen von Lyrik gibt es diesen Rollenkörper nicht, es geht ausschließlich darum, sich Laute und Rhythmen anzuverwandeln, ohne Hamlet oder Lorelei Lee zu werden. Bei diesem Lesen geht es nicht darum, einen Charakter erstehen zu lassen, sondern darum, Zeichen so zu präsentieren, dass ihre Deutung keine Frage mehr ist, dass die Rätsel des Textes keine Erklärung mehr brauchen, weil das Gewicht der Worte bereits die Lösung ist. Dieses Gewicht der Worte kann unmittelbar spürbar werden durch die physische Präsenz des oder der Vorlesenden. Es kann aber genauso gut schiefgehen. Gelingen und Misslingen entscheiden sich im Hier und Jetzt.
© Achim Raven
Schöner Text! – Weiß ‘man’ ja alles grundsätzlich, aber es macht Spaß, das nochmal so klar gesagt zu bekommen. – Im Grunde läuft doch alles auf Eines hinaus: FAZINATION!
Die erzeugt man eben – oder die Chose misslingt.
Freut mich, dass der Text Spaß macht. Dass er nichts grundsätzlich Neues enthält, liegt daran, dass er ursprünglich viel weiter angelegt war. Dabei wäre eher ein Buch rausgekommen, das ich in den maximal zwei Monaten bis zur nächsten Deadline niemals hinbekommen hätte. Darin wäre es u.a. um das „körperlose“ Lesen gegangen, das ja in der Schule trainiert wird und zwei fundamentale Irrtümer hervorbringt. Erstens, dass das körperliche Substrat der Lesenden keine Rolle spiele, dass es also egal sei, ob man müde ist beim Lesen oder betrunken. Zweitens, dass das körperliche Substrat des Gelesenen keine Rolle spiele, dass es z.B. nur darauf ankomme, ob eine Person als männlich oder weiblich „gelesen“ werde. Das Ganze hat außerdem nicht unmittelbar mit Lyrik zu tun, und die Reaktion wäre statt „Schöner Text“ womöglich „Thema verfehlt“ gewesen.
Nein, nein, nein, auch das Gedicht kann so vorgetragen werden, dass der Vortragende den Gegenstand verkörpert. etwa den Sack, der faltig ist, wie mein Lehrer damals forderte mit faltiger Stirn, oder die berühmte Interpretation des Fischgesangs durch Fröbe. Und Balladen sind ein Beispiel für schauspielerische Interpretationen des Geschriebenen, als wäre es eine Partitur. Lutz Görner als Rezitator ist übrigens ein Meister des Vortrags und sollte hier erwähnt werden, weil er z. B. Heines Winterreise als Langgedicht vorzüglich, episch und in gefasster Sprache vorgelebt hat. Welch ein Genuss!
Die Frage ist, ob es überhaupt wünschenswert wäre, wenn beim Gedichtvortag der Vortragende den Gegenstand verkörpert. Seinerzeit war ich ja auch begeistert von Lutz Görner, und ich habe mir daraufhin nochmal das Caput 1 aus dem Wintermärchen angeschaut (https://www.youtube.com/watch?v=ImVAhooiEoM). Ohne Zweifel große Sprechkunst, doch hin und wieder höre ich Anklänge von Selbstgefälligkeit, wenn er allzusehr in die Rolle des Belehrenden schlüpft, wenn er Seufzlaute und Atempausen zelebriert, um noch glaubwürdiger als glaubwürdig zu erscheinen. Aber wie gesagt, nur Anklänge. An anderer Stelle (Balladen für Kinder) aber überagiert er, um des moralischen Effekts willen macht er aus der Ballade, was sie nicht: ein Schulfunk-Hörspiel (Das Sklavenschiff, https://www.youtube.com/watch?v=9vu_8LieWuU). Der Text ist ihm Anlass, SEINE Register zu ziehen. Das ist eine alte Schauspielerkrankheit, die umso deutlicher wird, je älter die Inszenierung ist. Alexander Moissis Erlkönig von 1929 ist ebenfalls höchste Sprechkultur, doch mittlerweile eher unfreiwillig komisch (https://youtu.be/XzBo7thSYtk). Wir befinden uns hier natürlich auf dünnem Eis, es geht um Gefallen und Nichtgefallen, und was dem einen sin Uhl … . Dennoch geht es mir dabei auch um Grundsätzliches: Beim Schauspiel ist die Rolle die Verkörperung des Gegenstands, ein Kostüm, das Schauspieler:innen sich überziehen müssen, unter dem die Konturen der eigenen Person aber sichtbar bleiben sollen. Beim Gedicht, selbst bei der Ballade mit wörtlicher Rede (also anscheinend Rollentext) gibt es ein solches Kostüm nicht. Denn beim Gedicht ist der Gegenstand, seine notwendige und hinreichende Bedingung, nicht das Thema wie beim Drama. Beim Gedicht ist das Thema eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung. Die hinreichende Bedingung ist die Sprache in ihrer semantischen, syntaktischen, lautlichen und rhythmischen Spezifik. Diese spezifische Sprache macht das Gedicht erst zum Gedicht, sonst bliebe es Statement. Deswegen ist der Gegenstand des Gedichts auch nicht das Thema, sondern die Sprache. Dem hat der Vortrag Rechnung zu tragen und sollte auf Psychologismen und Bühneneffekte verzichten. Da hat Gert Fröbe natürlich die besten Karten, denn Fisches Nachtgesang ist ein Gedicht ohne Sprache, genauso wie John Cages 4‘33“ Musik ohne Töne ist. Sowas geht aber auch nur einziges Mal. Sonst ist die Grenze zwischen Vortragskunst und Schauspielerei immer elastisch und oft nur hauchdünn. Aber sie besteht.
Nun, Jan Michaelis hat natürlich auch recht: im Grunde kommt es nicht darauf an, WIE jemand Faszination erzeugt. Ich denke: alle Mittel sind erlaubt, wenn sie diesem Ziel dienen.
Wenn jemand schauspielerische Effekte beim Gedichtvortrag einsetzt – und es funktioniert! – why not? – Die schönste Theorie nützt nix, wenn jemand sich sklavisch daran hält.
Übrigens hat Rühmkorff beim großen und verehrten (und meisterlich von ihm parodierten) Benn moniert, dass er seine Gedichte so lese, als ob er sie nicht verstanden hätte. ;-)
– Stimmt: ich habe tatsächlich Filmaufnahmen gesehen, die diesen Eindruck stützen könnten…
Aber es ist wohl so, dass jede Zeit andere Ausdrucksformen bevorzugt (oder ablehnt).
Immerhin “funktionieren” Gedichte von Goethe, Heine, Rilke (und Benn) auch heute noch – wenn man sie vortragen kann! – Andere – von Schiller, Uhland, Platen – halt nicht mehr so gut. – Und was Morgenstern betrifft: der hat ja nun nicht nur “Fisches Nachtgesang” geschrieben! Sehr viele seiner Gedichte machen auch heute noch Spaß mit Ernst.