Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.
Aus dem Blick geraten: schlüpfender Stahl und Wasserkothurn — Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 – 1803) zum Dreihundertsten
Regelmäßig fliegen einem durchformatierte Axolotl-Killhypes um die Ohren, die letztlich doch nur den gebildeten Ständen mundgerechte Diskurshäppchen artig zwischen die Zähne schieben. In manchem totgesagten Hund ist mehr Leben. Zum Beispiel in dem hier:
Der Eislauf
Vergraben ist in ewige Nacht
Der Erfinder großer Name zu oft.
Was ihr Geist grübelnd entdeckt, nutzen wir;
Aber belohnt Ehre sie auch?
Wer nannte dir den kühneren Mann,
Der zuerst am Maste Segel erhob?
Ach verging selber der Ruhm Dessen nicht,
Welcher dem Fuß Flügel erfand!
Und sollte Der unsterblich nicht seyn,
Der Gesundheit uns und Freuden erfand,
Die das Ross muthig im Lauf niemals gab,
Welche der Reihn selber nicht hat?
Unsterblich ist mein Name dereinst!
Ich erfinde noch dem schlüpfenden Stahl
Seinen Tanz! Leichteres Schwungs fliegt er hin,
Kreiset umher, schöner zu sehn.
Du kennest jeden reizenden Ton
Der Musik, drum gib dem Tanz Melodie!
Mond, und Wald höre den Schall ihres Horns,
Wenn sie des Flugs Eile gebeut,
O Jüngling, der den Wasserkothurn
Zu beseelen weiß, und flüchtiger tanzt,
Lass der Stadt ihren Kamin! Kommʼ mit mir,
Wo des Krystalls Ebne dir winkt!
Sein Licht hat er in Düfte gehüllt,
Wie erhellt des Winters werdender Tag
Sanft den See! Glänzenden Reif, Sternen gleich,
Streute die Nacht über ihn aus!
Wie schweigt um uns das weiße Gefild!
Wie ertönt vom jungen Froste die Bahn!
Fern verräth deines Kothurns Schall dich mir,
Wenn du dem Blick, Flüchtling, enteilst.
Wir haben doch zum Schmause genung
Von des Halmes Frucht? und Freuden des Weins?
Winterluft reizt die Begier nach dem Mahl;
Flügel am Fuss reizen sie mehr!
Zur Linken wende du dich, ich will
Zu der rechten hin halbkreisend mich drehn;
Nim den Schwung, wie du mich ihn nehmen siehst:
Also! nun fleug schnell mir vorbei!
So gehen wir den schlängelnden Gang
An dem langen Ufer schwebend hinab.
Künstle nicht! Stellung, wie die, liebʼ ich nicht,
Zeichnet dir auch Preisler nicht nach.
Was horchst du nach der Insel hinauf?
Unerfahrne Läufer tönen dort her!
Huf und Last gingen noch nicht übers Eis,
Netze noch nicht unter ihm fort.
Sonst späht dein Ohr ja alles; vernimm,
Wie der Todeston wehklagt auf der Flut!
O wie tönts anders! wie halltʼs, wenn der Frost
Meilen hinab spaltet den See!
Zurück! laß nicht die schimmernde Bahn
Dich verführen, weg vom Ufer zu gehn!
Denn wo dort Tiefen sie deckt, strömts vielleicht,
Sprudeln vielleicht Quellen empor.
Den ungehörten Wogen entströmt,
Dem geheimen Quell entrieselt der Tod!
Glittst du auch leicht, wie dieß Laub, ach dorthin;
Sänkest du doch, Jüngling, und stürbst!
(Friedrich Gottlieb Klopstock, Der Eislauf, Klopstocks sämmtliche Werke, Vierter Band, Leipzig, 1854, S.158 ff. — Dass mit Preisler in Strophe 11 der Kupferstecher Johann Martin Preis(s)ler gemeint ist, ist nicht weiter von Belang)
Es war einmal, dass Friedrich Gottlieb Klopstock sehr populär war: In einem alten Bestseller steht ein junges Liebespaar am Fenster, draußen tobt ein Gewitter. „Ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: Klopstock!“ (Goethe, Die Leiden des jungen Werther, Hamburger Ausgabe, Hamburg, 1948 ff., Bd. 6, S 27) Mehr wird nicht gesprochen, denn die beiden sind einander so nah wie nie zuvor und nie wieder danach. Der Sprach- und Gefühlsrausch von Klopstocks „Frühlingsfeyer“ vereint sie für den Augenblick.
Mittlerweile gilt Klopstock als philologische Altlast, als toter Hund. Sein „Messias“ war schon zu seinen Lebzeiten umstritten, Lessing verspottet die Tour de Force in Hexametern als langweilige Suada, die keiner freiwillig liest, der Philologe Johann Jakob Bodmer hingegen ist so begeistert, dass er den 26-jährigen Dichter nach Zürich einlädt. Er erwartet einen introvertierten, anämischen Schwärmer. Wie muss da Klopstocks Reaktion auf die Einladung den doppelt so alten Homme de Lettres schockiert haben:
„[…] Und noch eine Frage , die auch einigermaßen bei mir zur Gegend gehört; denn Mein Leben ist nun zum Punkt der Jünglingsjahre gestiegen; wie weit wohnen Mädchen Ihrer Bekanntschaft von Ihnen, von denen Sie glaubten, daß ich einen Umgang mit ihnen haben könnte ? Das Herz der Mädchen ist eine große, weite Aussicht der Natur, in deren Labyrinth ein Dichter oft gegangen seyn muß, wenn er ein tiefsinniger Wisser seyn will. Nur dürften die Mädchens so nichts von meiner Geschichte wissen, denn sie möchten sonst vielleicht sehr ohne Ursache zu zurückhaltend werden. Dies ohne Ursache ist gar kein Tadel dieser liebenswürdigen Unbekannten. […]“
(Brief vom 28. November 1749 an Bodmer, in: Klopstocks Oden, Erster Band, Hg. J. G. Gruber, Leipzig 1831, S. 54)
Bei all der pietistischen Inbrunst seiner Dichtung erweist sich der junge Mann aus dem Norden als eher diesseitiger Mensch von stabilem Wohlbefinden und robuster Statur. Diesen diesseitigen Menschen würde man heute als sportlich bezeichnen, seine Freude an Bewegung und Tanz bestimmt auch seine Arbeit mit der Sprache. Bei allem (heutzutage oft kaum noch goutierbaren) Ernst seiner Inhalte ist seine sprachliche Gestaltung spielerisch, energisch, zuweilen experimentell. Im 18. Jahrhundert kam die Eindeutschung antiker Vers- und Strophenmaße in Mode. Klopstock war neben Voß wohl der bedeutendste Protagonist, der u.a. die alkäische Odenstrophe in der deutschsprachigen Literatur etablierte. Das mag nur noch von historischem Interesse sein, aber die strengen metrischen Regeln der alkäischen Strophe sind bis heute eine Herausforderung für alle, die es mit dem Verseschreiben ernst meinen.
Beträchtlich ist der Trainingseffekt, der sich
Herausstellt beim alkäischen Strophenmaß.
Wer das mal ausprobiert, wird staunen
Über die Biegsamkeit seiner Sprache. (A.R.)
Klopstock ist da immer noch ein guter Anreger. Und er geht noch einen Schritt weiter. Wenn er eigene Odenmaße entwickelt, ist das beinah schon Oulipo:
Auch deshalb macht Klopstock es uns Heutigen schwer: Ihn zu lesen, bewirkt zwar immer ein bisschen Bewunderung, aber immer auch sehr viel Ungeduld. Das Konzentrat als stilistische Maßgabe, die Verknappung durch kurze Verse, die Pointierung sind seine Sache nicht, seine Sprache ist getragen vom Fluss der gebundenen und freien Metren. Liest man ihn laut, wird es hörbar. Sein Sprachduktus vertrüge sich mit der abstrakten, dunklen Musik von Om, Scott Walker oder Thee Silver Mt. Zion Memorial Orchestra.
Vielleicht aber auch nicht. „Entscheidend is auf‘m Platz“ (Adi Preißler):
Der Eislauf beginnt, als würde ein protestantischer Sophokles über die Vergänglichkeit räsonieren.
Doch dann, am Ende der 2. Strophe: dem Fuß Flügel, das ist mehr als Red-Bull-Reklame, das ist wörtlich zu nehmen, denn fast alles in diesem Gedicht ist zunächst mal wörtlich zu nehmen, es gibt keine Metaphern. Der geflügelte Fuß aber verwandelt den beweglichen Eisläufer auch ein bisschen in den quecksilbrigen Merkur.
Und Unsterblichkeit zu verlangen ausgerechnet für den, der die Lust des jagenden Ritts und des ausgelassenen Tanzes noch zu übertreffen hilft durch den Rausch der Bewegung, den der Körper ohne Hilfsmittel niemals erreicht, das wäre schon so ein Gedanke. Pietistisch ist das nicht.
In der vierten Strophe aber kommt der Dichter zur Sache. Mit dem „schlüpfenden Stahl“ wird das harte Metall geschmeidig. „Im Tanz fliegt er hin, Kreiset umher.“
Bis zur 6. Strophe ist alles Fliegen und Kreisen, Hin und Her, Klang und Rhythmus. Tatsächlich gibt Klopstock dem Tanz Melodie. Dann aber bekommt, was bislang Sport und Musik ist, eine Wendung, die Eisfläche wird zur Schaubühne. Der schlüpfende Stahl wird zum „Wasserkothurn“. Was für ein Wort! Das Sportgerät ist auf einmal der dionysische Jagdstiefel, zugleich der Stelzenschuh des Tragöden, der den Jüngling vom warmen Herd entführt in eine ferne, kristalline Klarheit, kalt und bedrohlich.
In der 7. Strophe „erhellt des Winters werdender Tag / Sanft den See“ und markiert eine Peripetie, den Moment des Schwebens, in dem die energische Aufwärtsbewegung in den freien Fall übergeht. Diesen Dämmerzustand, in dem das Licht in Düfte gehüllt ist und der Reif, das Nahe, mit dem Fernsten, den Sternen gleich wird, setzt Klopstock als Scharnier zwischen schweifendes Vergnügen und tragische Verstrickung.
Auch die Geräusche verändern sich, die Melodie des Tanzes weicht dem unheimlichen Singen des Eises und dem fernen Kratzen der Kufen, die Klopstock in der 8. Strophe aber eher spröde beschreibt als sie auszumalen wie den Tanz in Strophe 4 bis 7.
Das Drama auf der eisigen Schaubühne nimmt seinen Verlauf. Als retardierendes Moment fragt der Begleiter, wie es denn mit dem Essen wäre, die kalte Luft mache schließlich hungrig. „Winterluft reizt die Begier nach dem Mahl; / Flügel am Fuss reizen sie mehr!“ Aber zugleich markiert die banale Frage das unschuldig Schuldigwerden des Jünglings: Er verschmäht Brot („des Halmes Frucht“) und „Wein“, verweigert die Eucharistie, sein Weg in die Finsternis ist vorgezeichnet.
Zunächst aber wird auf dem „schlüpfenden Stahl“ des „Wasserkothurns“ weiter getanzt. Der Jüngling zeigt sich wie Ikarus leicht- und eigensinnig. Der Begleiter weist ihn zurecht, warnt ihn, als wäre er der Chor in einem Sophokles-Drama, um dann in den letzten drei Strophen wieder zu großer lyrischer Form aufzulaufen.
„Wie der Todeston wehklagt auf der Flut! / […] wie halltʼs, wenn der Frost / Meilen hinab spaltet den See!“
Die letzten sechs Verse antizipieren klangreich und bildgewaltig das Ende einer Tragödie, die Katastrophe. Allein dadurch, wie das Laub mit den ungehörten Wogen, dem rieselnden Tod kontrastiert. Und doch lässt Klopstock die Katastrophe in der Schwebe, indem er den Irrealis verwendet: „Sänkest du doch, Jüngling, und stürbst!“ (Stürbst!)
Nun ist die Zeit der Jünglinge längst vorbei, und Der Eislauf ist auch kein Vorläufer von Ror Wolfs Fußballsonetten. Aber er vermag immer noch Erstaunen und Bewunderung zu erwecken, wenn man sich auf diesen fremden Sound und seinen fremden Rhythmus einlässt. Frank Zappa , ein sehr jazz-affiner Musiker, hat einmal gesagt: „Jazz is not dead, ladies ʼn gentlemen, it just smells funny“. So does Klopstock.
© Achim Raven