Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 26: Lyrik im Unterricht – Ein Vorschlag zur Ungüte

Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.

 

Lyrik im Unterricht: Ein Vorschlag zur Ungüte

Um mit einer steilen These anzufangen: Der Deutschunterricht ist strukturell illiterat. Das ist durchaus berechtigt, denn unsere Welt, deren Grenzen mit denen unserer Sprache abgesteckt sind, ist nur zum geringsten Teil eine literarische. Als Sozialisationsagentur ist es Aufgabe der Schule, die Grenzen der Welt hinauszuschieben, sprachliche Horizonte zu erweitern. Und da gibt es wichtigere Sachen als die Luxusproduktion der schönen Literatur. Der gängige Einwand, dass gerade deren Produkte den Horizont auf besonders wertvolle Weise erweitern, weil ihre Inhaltsstoffe hochkonzentriert und daher besonders nahrhaft seien, bestätigt die Bedeutungslosigkeit der schönen Literatur. Denn der gängige Einwand entspringt der Absicht, die schöne Literatur auf einen Pool abfragbarer Statements zu reduzieren. Alles Irritierende, Ambivalente, Überraschende der Sprache, ihre sinnliche Qualität, also alles, was literarischen Wert ausmacht, bleibt dabei auf der Strecke. Es geht lediglich darum, „etwas daran zeigen“ zu können. Erfreulicherweise gibt es Lehrer:innen, die nicht illiterat sind, die nicht blindgläubig dem Primitivismus der didaktischen Instrumentalisierung folgen, und damit das Schlimmste verhindern. Aber eben auch nur das Schlimmste, denn auch sie müssen ja auf Geheiß der Bildungsbürokratie das Unmögliche möglich machen und an den didaktischen Bundesjugendspielen teilnehmen, indem sie „vergleichbare Leistungen“ generieren, um nicht als Versager zu gelten. David Graeber schreibt in „Bürokratie Die Utopie der Regeln“ (Stuttgart 2016, S. 61), dass Bürokratien die Gründe für das Scheitern an ihren Anforderungen niemals in diesen Anforderungen suchen, sondern immer bei den Scheiternden finden. Deshalb strukturell illiterat.

Zum Glück ist die schöne Literatur – wenn sie gelungen ist – robuster als gemeinhin angenommen. Romane und Theaterstücke nehmen keinen Schaden an der bürokratischen Didaktisierung, indem sie den abfragbaren Statements – mit lässiger Ignoranz – nicht widersprechen (wie Thomas Mann oder Bertolt Brecht) oder sie ad absurdum führen (wie Franz Kafka oder Heiner Müller). Dasselbe gilt für die Lyrik, nur dass deren Didaktisierung besonders viel Abscheu und Leid erzeugt – bei Lernenden wie Lehrenden. Lyrik stellt höhere Ansprüche an die Lesenden als Prosa und Drama. Nehmen wir nur einmal die Versmaße, an denen die Arbeit im Unterricht immer eine Sisyphusarbeit ist.

Es bereitet grundsätzlich Mühe, betonte von unbetonten Silben zu unterscheiden. Wer darüber hinaus jemals versucht hat, auf eigene Faust Beispiele schulmäßig durchgehaltener Versmaße zu finden, stellt mit Erstaunen fest, dass solche Beispiele selbst im ordnungsliebenden 19. Jahrhundert seltener sind, als zu vermuten wäre. Denn immer wieder sind ins klare Versmaß kleine Abweichungen oder Ambivalenzen eingebaut. Diese sind nicht zufällig oder mutwillig, sondern signifikant, sie verhindern, dass die Verse klappern und durch Berechenbarkeit einschläfern. Außerdem zeigen diese Unregelmäßigkeiten, dass das Versmaß nur vom Inhalt her zu verstehen ist und der Inhalt sich zugleich erst über das Versmaß erschließt. In der Schule sorgt die immer noch praktizierte Trennung von Form- und Inhaltsanalyse dazu, dass die formalen Möglichkeiten der Lyrik nicht ernst genommen werden. Es sollen ja die nahrhaften Inhaltsstoffe heraus gesiebt werden, damit man „an“ dem Gedicht „was zeigen“ kann. – Als zufälliges Beispiel dafür, dass das nicht funktioniert Friedrich Hebbel:

Ein Bild aus Reichenau

Auf einer Blume, roth und brennend, saß
Ein Schmetterling, der ihren Honig sog,
Und sich in seiner Wollust so vergaß,
Daß er vor mir nicht einmal weiter flog.

Ich wollte seh’n, wie süß die Blume war,
Und brach sie ab: er blieb an seinem Ort;
Ich flocht sie der Geliebten in das Haar:
Er sog, wie aufgelös’t in Wonne, fort!

(Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 230.)

Das Gedicht ist auf den ersten Blick durchaus ansprechend. Eine kleine Alltagsbeobachtung, vielleicht während der Sommerfrische in Reichenau an der Rax, führt ins Zentrum einer ganz großen Thematik: das Selbstvergessen in der Wollust, die Auflösung in Wonne, der totale Kontrollverlust in der Hingabe. So weit, so schön. Wäre da nicht das Metrum. Der fünfhebige Jambus ist im „Bild aus Reichenau“ nämlich gar nicht so glatt, wie er scheint. In Vers 2 wendet Hebbel einen gängigen Kniff an. Er legt eine unbetonte Silbe auf eine betonte Stelle: SCHME tter LING. Kein Mensch sagt SCHME tter LING, jeder sagt SCHME tter ling. Gerade aufmerksame Schüler:innen erkennen da einen Daktylus, weil sie es so gelernt haben. Im Extremfall droht Punktabzug. Dabei handelt es sich um eine gezielte Irritation durch eine Betonung, die deswegen nur halb anklingt. Diese metrische Ambivalenz in einem Schlüsselwort zeigt, dass eben nicht immer alles glattgeht und der Himmel nicht voller Geigen hängt. Noch subtiler arbeitet Hebbel im Schlussvers. Der eigentlich unnötige Apostroph in AUF ge LÖS’T lässt eine zusätzliche unbetonte Silbe anklingen (AUF ge LÖ s[e]t), so dass hier sich eine zweite unbetonte Silbe verbotenerweise in den Jambus schleicht, ohne explizit zu werden. Von diesem diskreten Spiel mit den Schlüsselwörtern lebt das Gedicht und hebt es weit über die bloße Verlautbarung einer interessanten Beobachtung und eines ephemeren Gefühls hinaus.

Aber genau das lernen Schüler*innen: Lyrik enthält interessante Beobachtungen und verlautbart Gefühle. Sind die Gefühle ephemer, heißen sie Gelegenheitsgedichte. Verlautbaren sie Gedanken, heißen sie Gedankengedichte. So lassen sich Gedichte trefflich eintüten als Gelegenheits-, Gedanken-, Liebes-, Natur- oder Großstadtgedichte. Vielleicht, um sie von Wurst-, Polizei-, oder Finanzbuchhaltungsgedichten zu unterscheiden? – Werch ein Illtum! Es gibt nämlich nur gute und weniger gute Gedichte.

Im Ringen um „vergleichbare Leistungen“ produziert die Auseinandersetzung mit dem Metrum nicht Erkenntnis, sondern Stress. Ergibt die Überprüfung auf Jambus, Trochäus, Daktylus und Anapäst nichts durchgängig Eindeutiges, sind viele Schüler:innen (und Lehrer:innen!) in der Bredouille. Sie haben den Eindruck, etwas finden zu müssen, wo sie nichts zu suchen haben. Ein demütigendes Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit entsteht. Dass die gebundenen Metren variiert werden sollten, um Eintönigkeit zu vermeiden, und dass es tatsächlich freie Metren gibt, die sich jeweils nur an einem einzigen Punkt als notwendig erweisen, ist didaktisch nicht vermittelbar und nur über Erfahrung lernbar. Dabei kann Musik helfen, z. B. Ornette Coleman oder Sonic Youth. Aber nur denen, die hören.

Mein Vorschlag:
Auf Lyrik überall da verzichten, wo „vergleichbare Leistungen“ generiert werden müssen, also Noten gegeben werden. Und zwar konsequent. In den verbleibenden Randbereichen sollte Freiwilligkeit oberstes Prinzip sein, vor allem bei den Lehrer:innen. Nur wer Lust darauf hat, sollte sich auch damit beschäftigen. Für alle anderen gibt es die neuen und alten Medien, die sind sowieso relevanter, und es braucht kein besonderes Interesse, um vom bewussten Umgang mit ihnen zu profitieren.

So wird alles verzichtbar, was die Didaktik „Analyse“ bzw. „Interpretation“ nennt und nicht viel mit Verstehen und Erklären zu tun hat. Stattdessen darf gespielt werden. – Zwei Beispiele auf der Grundlage der ersten Strophe des Hebbel-Gedichts:

Erstens. Durch Umstellung und Variation der Wörter wird aus dem fünfhebigen Jambus ein dreihebiger Daktylus:

Auf ei ner BLU me rot BRENN end saß
SAU gend den HO nig ein SCHMETT er ling
IN sei ne WOLL ust ver GESS en so
DASS er vor MIR nicht da VON eil te

Zweitens. Durch willkürlichen Austausch einzelner Buchstaben und Buchstabengruppen eröffnen sich neue semantische Felder.

auf einer printe ritten winzig klein
ein klapperstorch der eintönig klang
ein clown ein kleiner spatz vom clownsverein
zu minervas tanzpalast im rückwärtsgang

Durch solche Verfahren entstehen keine Kunstwerke. Aber diese Arbeit ist höchst belustigend und führt ein ins Handwerk des lyrischen Schreibens, nämlich in die Verfahren, Wörter in Form zu bringen. Im nachträglichen Vergleich mit dem Original erweist sich jedoch deutlich dessen Qualität im Gegensatz zu den Stümpereien der lustvollen Dekonstruktion.

Der dreihebige Daktylus stimmt zwar formal, aber was er betont, ist ziemlich beliebig. Er hat keine semantische Funktion, er bleibt ein gedankenlos vorwärtsstolperndes EINSzweidrei. Ganz anders die Betonungen bei Hebbel, die markieren die Transformation eines Sprachbildes in einen fortschreitenden Gedanken.

Das permutative Spiel der zweiten Variante erzeugt überraschende Einzelbilder, zusätzlich durch den Reim zusammengehalten. Doch gleichen die den Attraktionen eines Vergnügungsparks. Das ist reine Zerstreuung, Popcornlyrik. Hebbel erzeugt dagegen eine Irritation. Statt „Gern mal was anderes, warum nicht auch ein kleiner Spatz vom Clownsverein, hi hi!“, bunter Nettigkeit also, nichts geringeres als die Aushebelung der Naturgesetze durch die Macht des Eros. Denn wegen der Ankopplung durch „und“ an das „roth“ ist das „brennend“ KEINE Metapher, da brennt tatsächlich etwas, und der Überlebenstrieb des Tierchens ist suspendiert. Trotzdem keine endlose Arie Isoldens, kein Versinken-Ertrinken, kein gnadenlos spiralisierender Tristanakkord, keine violetten Samtdraperien mit Goldapplikation. Wo Richard Wagner buchstäblich große Oper und einen ganzen lifestyle inszenieren muss, reichen Friedrich Hebbel ein paar treffend gesetzte Wörter.

Solche Dekonstruktionen machen die Qualität des Originals begreifbar durch unmittelbare Arbeit am Material, ohne dieses Original mit Interpretationsansätzen und Analysemethoden von sich weg zu schubsen. Darüber hinaus ist auf dieser Grundlage eines sich entwickelnden Qualitätsbewusstseins sogar möglich, aus den handwerklichen Spielereien Kunstwerke zu machen. Dann wird aus dem Spiel Ernst, zu dem aber niemand gezwungen sein soll.

 

© Achim Raven

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt: Der Ernst des Unernstes kommt vom Unernst des Ernstes, Düsseldorf 2022, edition virgines. Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und 10 Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

2 Kommentare

  1. Interessante These: Schule ist Bürokratie der vergleichbaren Leistungen. Literaturunterricht habe ich an meiner Schule anders erfahren, und dabei ging es um die Fackel der Begeisterung, die weitergereicht wurde, damit das olympische Feuer der Literatur entzündet wurde, was gleich mehreren Lehrern gelang, offensichtlich hatte ich da Glück mit diesen gleich mehreren Lehrern, deren Noten sicher auch auf Vergleichbares und auf die Sicherung von Verständnis abzielte. Jedoch bei der Literatur ging es stets darum, die Begeisterung für das Lesen zu wecken. Methodisch gingen die Lehrer dabei unterschiedlich vor. Einer bat uns unsere Leseeindrücke der Klasse als Buchrezension vorzutragen. Ein anderer brachte Literatur mit, für die er sich begeisterte und schwärmte uns davon vor. Der nächste ließ uns Miniaturen nach dem Vorbild etablierter Literaten verfassen, also spielerisch nachahmen, wobei es nicht um Strickanleitungen und rein Handwerkliches ging, sondern um produktives Verstehen und Transfer. Das ist ein Unterschied zum Handwerklichen, worin leider auch die Schreibschulen oft stecken bleiben, wenn man dann einfach nur Silben zählt und so glaubt schon gelungene Haikus zu schreiben, oder Siebenlinge, dann ist das zwar virtuos, aber eben auch nur Gedreckselt und nicht Geschnitzt. Ein Tillman Riemenschneider aber hat nicht gedreckselt, sondern seine künstlerische Leistung ist, dass er geschnitzt hat, von handwerklicher Grundfähigkeit zum Entwurf eines dreiflügeligen Altars ist es deshalb ein weiter Weg. Und von Hebbels Gedicht, dass sich in drei Minuten lesen und erfassen lässt zu einer Wagneroper, die mich drei Stunden gebannt in den unbequemen Theatersessel presst, ist es auch ein weiter Weg. Die beiden Leistungen sind in keiner Bürokratie zu vergleichen oder vergleichbar, dass es hier getan wird, ist entweder vermessen, oder so mit Ironie getränkt, dass es brennt.

    1. Es handelt sich leider nicht nur um eine These, sondern um eine Tatsache: Die Schule ist eine Behörde, und zwar eine untergeordnete, über die die Schulaufsicht beim Regierungspräsidenten und das Schulministerium aufmerksam mittels Gesetzen und Verwaltungsvorschriften wachen, und die bestallten Wächter:innen zählen gern die Erbse. Allerdings verbieten die übergeordneten Behörden nicht das beschriebene Glück, sie ordnen es nur mittels Rechtfertigungsdruck ihren Behördensachen unter. (Ich habe mich ausführlich damit auseinandergesetzt in meinem Essay „Plappern – Macht – Schule Zwischenbemerkung zu Schule und Sprache“ Düsseldorf 2017)

      Drechseln ist nicht Schnitzen. Das stimmt, aber drechseln zu können hilft beim Schnitzen, weil es lehrt, mit dem Material zurande zu kommen und eine Ahnung davon zu entwickeln, dass man nur mit Kreativität nicht weit kommt. Zerbeiteltes Holz ist noch lange keine Skulptur, und Kreativität ist eher was Psychologisches als was Künstlerisches.

      Die Ironie beim Vergleich zwischen Hebbel und Wagner ist doch sehr milde, beiden geht es ja um Nietzsches „Doch alle Lust will Ewigkeit“. Der eine konstruiert daraus den Liebestod mit großem Orchester, der andere thematisiert den flüchtigen Augenblick und nimmt dabei ALLE Lust sehr ernst, die eines Insekts gehört nämlich auch dazu.

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