Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 4: Kreativität

Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.

 

Kreativität

Wörtlich genommen ist sie ja ungefähr das, was – ewig vor Fips Asmussen – im Deutsch des 18. Jahrhunderts Witz hieß:

In der engsten, jetzt noch allein üblichen Bedeutung ist der Witz, das Vermögen der Seele, Ähnlichkeiten, und besonders verborgene Ähnlichkeiten, zu entdecken, so wie Scharfsinn das Vermögen ist, verborgene Unterschiede aufzufinden. [Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1793-1801, Bd. 4, Sp. 1587]

Bei Kant zeigt dies Vermögen sich in Gestalt des synthetischen Urteils, bei Freud als Eros, bei den Dialektikern ist es der Treibstoff aller theoretischen und praktischen Prozesse. Der Witz erweitert den Horizont und verhindert, dass der Scharfsinn sich in Kasuistik, Vernünftelei und Spitzfindigkeiten verzettelt.

Witz und Scharfsinn sind die grundlegenden Potenziale der menschlichen Intelligenz, sie sind spontan und physisch, sie brauchen als Trägersubstanz einen Körper, der sich selbst räumlich, zeitlich und libidinös verorten kann. Künstliche Intelligenz ist körperlos und hat kein Bewusstsein von Körperlichkeit, bestenfalls Daten über sie. Sie ist genauso ein begrifflicher Etikettenschwindel wie Automobil oder selbstfahrendes Auto (das obendrein auch noch eine Tautologie ist). Künstliche Intelligenz ist schnell, immens nützlich und dumm.

Über den Witz hinaus kann Kreativität jedoch ebenfalls schnell, nützlich und dumm sein, sie kann aber auch das genaue Gegenteil sein, nämlich langsam, unnütz und sauklug. Sie braucht nicht einmal einen menschlichen Körper, kreativ ist auch das Meerschweinchen bei der Futtersuche oder der Partnerwahl. Menschlich an der Kreativität ist die Möglichkeit eines Bewusstseins von ihr und damit ihrer Steigerung.

Kreativität ist also eine fundamentale Fähigkeit, selbstverständlich und lebenswichtig wie die hochkomplexe Fähigkeit, seinen Stoffwechsel in Gang zu halten. Nur, dass um die Kreativität immer so ein Gewese gemacht wird. Sei kreativ! ist inzwischen eine Art kategorischer Imperativ, wohingegen niemand die Aufrechterhaltung des Stoffwechsels propagiert. Wahrscheinlich deswegen, weil Kreativität im Gegensatz zur Inganghaltung des Stoffwechsels Wettbewerbsvorteile verschaffen kann, während diese erst dann beachtet wird, wenn sie scheitert. Offenbar ist die Fähigkeit, Ähnlichkeiten, und besonders verborgene Ähnlichkeiten, zu entdecken, gut zu gebrauchen als Instrument der Selbstzurichtung und Selbstüberhebung. Sie hilft, anderen die Beine wegtreten bzw. ihnen etwas andrehen zu können. Man betrachte nur, in welchen Branchen bevorzugt von Kreativität schwadroniert wird.

Ein so mächtiges Instrument wird gern zum Selbstzweck. Auf einmal ist das, was die Schmiedekunst ausmacht, nicht mehr die erworbene Kunstfertigkeit (Handwerk), sondern der Hammer. Oder das Lebensmittel ist auf einmal der Lebenszweck. Wenn dergestalt Zweck und Mittel vertauscht sind, erhält die Kreativität eine Aura, die ihr gar nicht zukommt. Objektiv betrachtet ist sie banal: Sie schafft Zusammenhänge. Auch Verschwörungstheorien und die Partnersuche des Meerschweinchens sind kreativ. Unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs aber verkörpert sie all das, was diejenigen sich unter freier Tätigkeit vorstellen, die nur deren Gegenteile kennen, nämlich die freie Untätigkeit und die unfreie Tätigkeit. Also die freigesetzten Abhängigen, die Unbrauchbaren, oder aber die abhängig Tätigen, die ihre fremdbestimmte Tätigkeit obendrein auch noch als Sinn ihres Lebens aufgedrückt kriegen. Die falsche Idee der Kreativität befeuert die unerfüllte Sehnsucht nach Autonomie und gerinnt zum Fetisch. Sie ist nicht mehr Mittel, sie ist Zweck und erscheint als unvermittelte Selbstermächtigung durch jähes Machen: Ich habe 88 Tasten vor mir, ich betrachte, fühle sie, berühre sie, bringe die Luft zum Schwingen, knipse meinen Verstand aus, überlass mich ganz und gar den Tasten, und lasse alles raus! Kreativität erzeugt nach dieser deformierten Vorstellung eine erleichternde Ausscheidung, die inneren Druck reduziert und als lustvoll empfunden wird. Aroma und Konsistenz der Produkte solch fetischisierter Kreativität sind dann auch dementsprechend. Johannes Heesters hatte einfach recht: Man müüste Kellafier spielän könön

Die fetischisierte Kreativität verleitet dazu, der eigenen Phantasie auf den Leim zu gehen. Die Phantasie macht es sich ja gerne leicht und gibt sich selbstzufrieden dem ersten besten Kitzel hin. Das Reich der Phantasie ist nicht das Reich der Freiheit, sondern das Reich der Klischees. (Dies ist übrigens auch das Erfolgsgeheimnis des deutschen Schlagers und der Fantasy-Industrie.)

Derart fetischisierte Kreativität wird gern den Dichter*innen unterstellt. Werch ein Illtum.

Nicht der Hammer macht die Kunst, die Unio mystica mit dem Stahlklotz am Stiel, sondern Hirn, Nerv, Muskel, die dafür sorgen, dass dieser Hammer im richtigen Augenblick mit der richtigen Kraft auf den richtigen Punkt gehauen wird. Künstlerischer Tätigkeit ist der Einfall, der zündende Funke der Phantasie, immer nur Anlass, niemals Zweck. Zudem wird dieser initiale Funke völlig überschätzt, indem ihm Genialität zugeschrieben wird. Einfälle (etwas fällt in einen herein, dem ist nur allzu förderlich, wenn man oben nicht ganz dicht ist) geschehen ununterbrochen, sie alle festzuhalten ist gar nicht möglich. Die künstlerische Leistung beginnt erst, wenn das Potenzial des Einfalls erkannt wird, sie realisiert sich erst, wenn das Potenzial nach den Regeln des Handwerks und zugleich – das unterscheidet die Dichter*innen von den Schmied*innen – im gezielten Verstoß gegen diese Regeln verwirklicht wird.

Damit die Phantasie sich mit dem, was ihr da eingefallen ist, nicht im kreativen Gefuchtel verzettelt, muss die Fähigkeit, besonders verborgene Ähnlichkeiten zu entdecken, das entwickeln, was Robert Musil den Möglichkeitssinn nennt.

Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.

Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Man sieht, daß die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkenswert sein können, und bedauerlicherweise lassen sie nicht selten das, was die Menschen bewundern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt oder wohl auch beides als gleichgültig. Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler. [Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1957, S. 16]

Phantasie wie Möglichkeitssinn wenden sich strikt vom Wirklichkeitssinn ab. Beide können einander auch stimulieren. Sie unterscheiden sich aber darin, dass die Phantasie die Realität einfach mal auf den Kopf stellt wie sie (!) gerade lustig ist, während der Möglichkeitssinn der Macht des Faktischen und ihrer Selbstzwangapparatur (Norbert Elias) das entgegensetzt, was sich nicht von ihr vereinnahmen lässt. Der Möglichkeitssinn macht damit noch längst keine Utopie, aber er findet die Widerworte und Gegenbilder zum vorgeblich Alternativlosen.
Was Dichter*innen brauchen, ist der Möglichkeitssinn. Die Kreativität haben sie sowieso, wie auch jedes Meerschweinchen.
Ein Beispiel. Am 5. März 1911 schreibt Alfred Lichtenstein:

 

Die Dämmerung

Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

Auf lange Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.

An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

[A. L. Gesammelte Gedichte, Zürich 1962, S. 44]

 

Wie jedes Gedicht hat auch dieses seine Anlässe in der Wirklichkeit, die an die Emotionen des Betrachtenden gerührt hat:
Die Basis bildet eine Reihe alltäglicher Augenblicke: In der Abenddämmerung spielt ein Kind am Wasser, Laub raschelt, der Himmel ist bedeckt, ein dicker Mann schaut aus dem Fenster, ein junger Mann folgt augenscheinlich einem hormonellen Drang, eine grotesk-komische Person tut etwas, was nicht der Rede wert ist, ein Säugling schreit, Hunde bellen. Diese Banalitäten empfindet der Dichter offenbar als lächerliche Inszenierung eines Genius malignus im Geiste Alfred Jarrys.

In der mittleren Strophe wird das grotesk komische Erlebnis angereichert mit Allegorien aus der Twilight Zone der Kunst um 1910: die Krüppel, das wahnsinnige Genie, das (Zirkus-)Pferdchen, die (belle) Dame (sans merci – kein weiches Weib). Hier stellt die Phantasie verborgene Ähnlichkeiten heraus und landet in den Klischees, die die Motive der mittleren Strophe auch 1910 schon waren.

Trotzdem kriegt Lichtenstein die Kurve. Er lässt es nicht bei einer Nummernrevue lustiger Einfälle bewenden, er destilliert sein Material, er arbeitet durch, was ihm eingefallen ist. Zum einen verwendet er dazu zwei sehr konventionelle Werkzeuge: das Metrum und den Reim. Sie geben dem Gedicht eine formale Unerbittlichkeit. Der fünfhebige Jambus mit alternierend stumpfer und klingender Kadenz bildet ein stramm geschnürtes Korsett, die Reime sind bis zum Überdruss rein. Das ist nicht nur schulmäßig, das ist geradezu klippschulmäßig, nachdem Heine doch die Nonchalance für die deutschsprachige Lyrik wiederentdeckt hat. Doch Lichteinstein simuliert hier nur den mustergültigen Verseschmied, der sich im Gehorsam gegenüber einer halluzinierten Sprachpolizei gefällt. Er weiß genau, was er tut: Die zwingende Form lässt die heterogenen Einzelheiten, fast immer ein Satz pro Vers, als das erkennen, was sie sind: Teile eines Systems ohne inneren Zusammenhang, Splitter einer explodierenden Welt, die zugleich auf makabre Weise eine Idylle bilden, wo die Krüppel fröhlich schwatzen. Krise und Normalität sind so ineinander verschmolzen, dass sie zugleich auseinander fliegen. Nur das Formkorsett hält sie zusammen. Dieses Paradox ist diskursiv schwer fassbar, aber immerhin künstlerisch in ein Bild zu setzen, in dem die starre Form die Zusammenhanglosigkeit der Ereignisse erfahrbar macht. Dazu bedarf es neben dem formalen Handwerk jener genauen Beobachtung, auf die das bloß Lustige verzichten kann, da es lediglich dem Zwang zur Pointe verpflichtet ist. Dies verdeutlicht besonders der Schlussvers:

Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

In einem Kinderwagen schreit ein Baby, Hunde kläffen und knurren. Was Lichtenstein daraus macht, ist kreativ und lustig, er stellt die Wirklichkeit auf den Kopf, das Ding und die Tiere verhalten sich wie Menschen, ein Gag wie in dem Film Hellzapoppin’ von 1941, da sitzt in einem Baum ein sprechender Bär, woraufhin ein Hund zu einem anderen Hund sagt: Can you imagine that? A talking bear!

Inwiefern zeigt sich hier der Möglichkeitssinn?

Zunächst einmal darin, wie es gelingt, den Kinderwagen, das Baby, das Knurren und Kläffen der Hunde verlustfrei in die elf Silben zu packen, die das Metrum an dieser Stelle zugesteht, und überdies noch den reinen Reim zu liefern. Da geht es um mehr als eine Pointe wie in der zitierten Filmszene, da geht es darum, ein stabiles Gerüst zu finden, an dem eine Sicht auf die Dinge vorgeführt werden kann, ohne ihr zu folgen.

Darüber hinaus zeigt sich der Möglichkeitssinn auch in der Doppelbödigkeit der sprachlichen Bilder:

Babygeschrei aus einem Kinderwagen: Der Kinderwagen schreit. Das Herrische in der Stimmmodulation des autoritären Mannes, sein Fluchen, gleicht oft einem Bellen und Knurren: also fluchen die bellenden und knurrenden Hunde. Eine derartige Sichtweise hat nur eine einzige Legitimation: „Ich habe es schließlich mit meinen eigenen Ohern und Augen gehört und gesehen.“

Dies ist die kindische, primitiv magische Sichtweise, die sich jeglicher Abstraktion und damit Reflexion verweigert. Es ist auch die Sichtweise der Verschwörungsgläubigen, die ihre eigene soziale Inkompetenz nach außen projizieren und sich gesellschaftliche Prozesse nur als Machenschaften und Machination vorstellen können. Es ist schließlich die Sichtweise, die Systeme ohne inneren Zusammenhang ermöglicht, die Verschmelzung von Krise und Normalität. Wäre eine derartige Sichtweise unmittelbar die des Verfassers, er hätte dieses kohärente Gebilde aus genau kalkulierten 126 Silben nicht hingekriegt, sondern endlose, raunende Manifeste verfasst.

Und doch – das ist die entscheidende Volte – ist diese primitive Sichtweise auch die poetische, damit doch mittelbar die des Verfassers, weil sie sich um ihrer selbst willen der begrifflichen Abstraktion verweigern muss. Vor der Dummheit kann die poetische Sichtweise sich nur retten, wenn sie den Möglichkeitssinn schärft, wissend, dass die Kreativität sich zur Dummheit indifferent verhält.

 

© Achim Raven

 

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt: Fehlgänge – Dreizehn Geschichten von der Rückseite des Möbiusbandes, Düsseldorf 2019, edition virgines. Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und 10 Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

Ein Kommentar

  1. Auch so’n Gedicht, das ich partikelweise seit Jahrzehnten mit mir rumschleppe: wie schafft der Kerl das, sich so iins Hirn zu graben??
    Herzlich
    Horst.

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