Fremdgehen, jung bleiben – Folge 11: Şafak Sarıçiçek

Junge Lyrik sieht sich selbst oft als eine Quelle der Innovation. Die Schnelllebigkeit der modernen Sprache, die Vielfalt der heutigen Gesellschaft mit all ihren frischen Einflüssen aus Ost, West, Süd und Nord verändern auch die Literatur tiefgreifend. Und so legt Leander Beil an jedem 8. des Monats den Fokus auf das kulturell und sprachlich Andere, das vermeintlich Fremde in der noch jungen Textwelt. »Fremdgehen, jung bleiben« nimmt jeweils einen Text oder Textausschnitt unter die Lupe und spielt essayistisch mit diesem – ohne den Spielregeln einer starren Analyse zu folgen.

 

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Bei Şafak Sarıçiçeks Text (geboren 1992 in Istanbul) »heidelberg-nord, abendlauf« handelt es sich keinesfalls um ein Weihnachtsgedicht. Aber draußen ist es eiseskalt, der zweite Advent ist passé und wir steuern nun mal auf das 24. Türchen zu – unaufhaltsam.

Also sei es in diesem Fall erlaubt, mit einem Gedanken zur Jahreszeit einzuleiten: So geht es beim Weihnachtsfest doch noch immer um große christliche Werte wie Solidarität oder Nächstenliebe. Und diese Werte sollten, so kitschig es auch klingen mag, keine Grenzen kennen – nicht bei Nationalitäten oder Kulturen. An Weihnachten steckt sozusagen das Große im Kleinen. Man feiert die eigenen Nächsten und gleichzeitig die ganze Menschenfamilie.

Sarıçiçek gelingt es in »heidelberg-nord, abendlauf« nicht nur in einem Atemzug die Welt zu umspannen. Mit großer Leichtigkeit zieht er von Land zu Land und schafft es trotzdem, sich nicht in banalen Aufzählungen zu verlieren.

Denn das große Ganze ist das Motiv des Himmels, das sich wie ein Gewölbe über das Gedicht spannt (»gesprenkelte / unfassbare weite / unfassbare schwärze«), den Leser leitet, ihn in ungekannte Höhen katapultiert (»halb blind starrst / du in die weite des / alls«), aber auch stets wieder zu erden weiß (»überwältigt / atmest du / den abend ein / siehst / das apothekenlicht«).

Der Blick des lyrischen Ichs streift die politischen Krisengebiete (»kinderaugen nach oben / blicken / in zerbombten städten unweit / euphrat und tigris«), lässt aber auch die Liebenden nicht außen vor. Mit seiner Selbstverständlichkeit ruft einem Sarıçiçeks Text ins Gedächtnis: Es braucht kein Weihnachten, um an »Wert«-volles erinnert zu werden.
 

heidelberg-nord, abendlauf

der zeiger weist auf
vier uhr früh
die stadt liegt
betrunken zu beiden seiten
des neckars
schwarzer wasserleibesfülle
einsame lastwagen
tuckern

vom abend gehetzt
rinnen dir feine
schweißtropfen in die
augen und
halb blind starrst
du in die weite des
alls gesprenkelte
unfassbare weite
unfassbare schwärze
fragst dich wie viele
paare hinaufschauen
in diesem moment
kinderaugen nach oben blicken
in zerbombten städten unweit
euphrat und tigris
wunderst dich wegen
der orte wo den himmel
keine menschenaugen streifen
sondern polarlichter
der orte wo stille wälder
dem himmel lauschen
affenbrotbäume im schlaf liegen
wo der abendhimmel
menschenfremd gespannt über der erde
und
überwältigt
atmest du
den abend ein

siehst
das apothekenlicht
ein fernes ufer
blinkt
des morgens
kühlem
dämmern
entgegen
atmest du
den abend aus.
 

© Şafak Sarıçiçek, Heidelberg

 

Leander Beil. Foto: Volker Derlath
Leander Beil. Foto: Volker Derlath

Leander Beil, geboren 18.08.1992 in München, lebt und studiert nach mehrjährigem Brasilienaufenthalt in München. Mitglied des Münchner Lyrik-Kollektivs »JuLy in der Stadt« (www.julyinderstadt.de). Erste Lyrikveröffentlichungen in »Drei Sandkörner wandern« (Deiningen, Verlag Steinmeier 2009), Versnetze 2/3 (hg. von Axel Kutsch, Weilerswist, Verlag Ralf Liebe 2009), NRhZ-Online (Literatur), »Die Hoffnung fährt schwarz« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Ois is easy« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Der deutsche Lyrikkalender 2012« (Boosstraat, Alhambra Publishing 2011), www.lyrikgarten.de (Online Anthologie des Anton G. Leitner Verlags), DAS GEDICHT Bd. 17, Bd. 18, Bd. 19, Bd. 22, Bd. 23 (Weßling, Anton G. Leitner Verlag), »Pausenpoesie« (Weißling, Anton G. Leitner Verlag 2015).
Alle bereits erschienenen Folgen von »Fremdgehen, jung bleiben« finden Sie hier.

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