Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.
Im Mai dieses Jahres hatte Leander Beil in der Rubrik »Der Poesie-Talk« bereits Rede und Antwort gestanden. Franziska Röchter bat ihn für den Jubiläumsblog um einen kurzen Beitrag seiner Wahl.
Sprachspitze: Über die Lyrik
von Leander Beil
»I have a dream …« – Nein, so würde Angela Merkel wohl keine ihrer Reden beginnen. Das Beste, das ›Poetischste‹ aus zwölf Jahren Politik wird wohl das trocken-deutsche »Wir schaffen das« gewesen sein. Die größte Rhetorikerin ist sie nicht, die Kanzlerin. Aber nun zum eigentlichen Thema dieses kurzen Abrisses: Sollte die Politik heute nicht lyrischer sein? Nein, andersherum. Sollte Lyrik heute nicht politischer sein?
Das Spannungsverhältnis zwischen Lyrik und Politik also – mal wieder. Mir scheint, dass bei Diskussionen zu diesem Thema der Begriff des Politischen meist schwammig bleibt. Was bedeutet es überhaupt, politisch Stellung zu beziehen? Heißt das, im Text die Politik der Großen Koalition zu kritisieren? Heißt das, gegen die Automobilindustrie anzuschreiben? Oder geht es hier vielmehr um Grundsätzliches, um Werte, um Moral, um Ethik?
Viele wollen klare, politische Statements, wollen Greifbares aus den Texten herausschälen. Sätze, die sie in ihr persönliches politisches Parteiprogramm kritzeln können. Doch das ist nicht die Aufgabe der Lyrik – zumindest nicht ihre primäre. Mit Nietzsche:
»Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist im freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke.«
(aus: »Über Wahrheit und Lüge«)
Für mich ist es nicht an der Poesie, sich verbohrt mit dem konkreten politischen Tagesgeschäft herumzuquälen. Dafür gibt es andere literarische und nicht-literarische Genres. Die Lyrik mit ihren Sinnbildern, Metaphern, mit ihrer sprachlichen Experimentierfreudigkeit ist dafür prädestiniert, dem Lesenden Freiheit zu gewähren bei seiner Interpretation.
Geht man nun einen Schritt weiter, wird man erkennen, dass allein dieser Denk-Spielraum bereits absoluter Ausdruck unseres freiheitlichen politischen Systems ist. Und gleichzeitig vehemente Kritik beispielsweise an den politischen Verfehlungen der Trumps, Putins oder Erdogans dieser Welt.
Eine Grenzen setzende, politisch belehrende, von oben nach unten gerichtete Sprache in der Poesie wäre – extrem formuliert – schon eine Art des Widerspruchs zu unseren Grundwerten. Externe politische Zwecksetzungen nehmen der Lyrik ihre Autonomie. Sie machen aus Poesie Propaganda.
Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.