Fremdgehen, jung bleiben – Folge 20: Guido Wilms

Junge Lyrik sieht sich selbst oft als eine Quelle der Innovation. Die Schnelllebigkeit der modernen Sprache, die Vielfalt der heutigen Gesellschaft mit all ihren frischen Einflüssen aus Ost, West, Süd und Nord verändern auch die Literatur tiefgreifend. Und so legt Leander Beil an jedem 8. des Monats den Fokus auf das kulturell und sprachlich Andere, das vermeintlich Fremde in der noch jungen Textwelt. »Fremdgehen, jung bleiben« nimmt jeweils einen Text oder Textausschnitt unter die Lupe und spielt essayistisch mit diesem – ohne den Spielregeln einer starren Analyse zu folgen.

 

Deutschsprachige Lyrik? Ach ja, Jan Wagner heißt das. Ob einen seine »Regentonnenvariationen« nun packen oder nicht, das sei erst mal dahingestellt. Viel wichtiger: Jan Wagner schafft es, Diskussionen über Lyrik zu entfachen. Und das ist viel wert. In einer Rede in München vor ein paar Jahren wies der Poeten-Popstar darauf hin, dass seiner Meinung nach eine Parallele zwischen dem Kriminalroman und der Lyrik bestehe. Da schrecken zunächst einmal so einige Lyriker angewidert zurück. Warum eigentlich?

Denn diese Idee hat es in sich. In aller Kürze: Jan Wagner vergleicht das Konzept des »locked room«, das in vielen Krimis präsent ist, mit der Art und Weise, wie Gedichte konstruiert sind. Der Leser wird mit einem Rätsel konfrontiert, mit einem verschlossenen Raum, und nähert sich Stück für Stück der scheinbar unmöglichen Auflösung. Bei Lyrik scheint es also um eine Art der Raumkonstruktion zu gehen. Ein Raum, Ziegel für Ziegel aufgebaut durch den Lyriker, der dem Leser am Ende einen Schlüssel an die Hand gibt oder ihn vielleicht sogar zurücklässt mit den Wirrungen eines mysteriösen Schlusssatzes.

Doch wie wird dieser Raum überhaupt erst konstituiert? Die Kategorie des Raums stellt sich nicht dualistisch den Menschen und Dingen gegenüber; sie wird durch beide geformt, sie entsteht aus ihnen. Die Protagonisten bilden in diesem Konglomerat einerseits platzierbare Elemente. Andererseits ist der Raum gleichzeitig an deren Aktivität gebunden. Aus den vielfältigen Beziehungen dieser Bestandteile zueinander entsteht er, der (lyrische) Raum.

Dieser gibt einem Rätsel auf; man muss ihn erspüren, zusammenpuzzlen. Das fragile Textgebäude, das ist es, was Guido Wilms (*1974, Geilenkirchen) in »Windstille« in die Luft zeichnet. Er bringt einem eine zutiefst poetische Betrachtungsweise näher: Der Lyriker lässt sich auf seine Umwelt ein, betritt diese und verweilt doch in sich. Ein Grenzgang, in dem man sich verlieren kann.

Wilms zeigt dem Leser auf, wie widersprüchlich die Unterscheidung zwischen Gegenwart und Zukunft sein kann, zwischen dem Augenblick und dem, was darauf folgt. Das Ertasten der Umwelt, des Raums wird mit einer solchen Feinfühligkeit abgebildet, dass der Leser gerührt zurückbleibt: »lautlos aufgerichtet / von der Geste der Bäume«. »Wo bin ich?«, will man fragen. Die Antwort bleibt jedem selbst überlassen.
 

Windstille

Noch bevor Du einen Schritt
auf Dinge zugehst,
sind sie um Dich gestellt,
werden ihre Atemzüge spürbar,

bis Du in ihrer Stille stehst,
lautlos aufgerichtet
von der Geste der Bäume,

einen gläsernen Augenblick lang –

Du betrittst ihn wie auf Zehenspitzen,
um nicht die Kinderaugen zu ängstigen,
mit denen der Himmel Dich anschaut.
 

© Guido Jackson Wilms, Bad Honnef
 

Leander Beil. Foto: Volker Derlath
Leander Beil. Foto: Volker Derlath

Leander Beil, geboren 18.08.1992 in München, lebt und studiert nach mehrjährigem Brasilienaufenthalt in München. Mitglied des Münchner Lyrik-Kollektivs »JuLy in der Stadt« (www.julyinderstadt.de). Erste Lyrikveröffentlichungen in »Drei Sandkörner wandern« (Deiningen, Verlag Steinmeier 2009), Versnetze 2/3 (hg. von Axel Kutsch, Weilerswist, Verlag Ralf Liebe 2009), NRhZ-Online (Literatur), »Die Hoffnung fährt schwarz« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Ois is easy« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Der deutsche Lyrikkalender 2012« (Boosstraat, Alhambra Publishing 2011), www.lyrikgarten.de (Online Anthologie des Anton G. Leitner Verlags), DAS GEDICHT Bd. 17, Bd. 18, Bd. 19, Bd. 22, Bd. 23 (Weßling, Anton G. Leitner Verlag), »Pausenpoesie« (Weßling, Anton G. Leitner Verlag 2015).
Alle bereits erschienenen Folgen von »Fremdgehen, jung bleiben« finden Sie hier.

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