Fremdgehen, jung bleiben – Folge 6: David Krause

Junge Lyrik sieht sich selbst oft als eine Quelle der Innovation. Die Schnelllebigkeit der modernen Sprache, die Vielfalt der heutigen Gesellschaft mit all ihren frischen Einflüssen aus Ost, West, Süd und Nord verändern auch die Literatur tiefgreifend. Und so legt Leander Beil an jedem 8. des Monats den Fokus auf das kulturell und sprachlich Andere, das vermeintlich Fremde in der noch jungen Textwelt. »Fremdgehen, jung bleiben« nimmt jeweils einen Text oder Textausschnitt unter die Lupe und spielt essayistisch mit diesem – ohne den Spielregeln einer starren Analyse zu folgen.

 

Der Blick richtet sich nach oben, zum Firmament, ein Gewölbe, eine Grenze, an der sich zwei helle Scheiben Tag und Nacht die Hand geben. Gegen Ende des Filmes »The Truman Show« schreitet Jim Carrey eine Treppe am Kulissen-Horizont hinauf – zu einer Tür in den aufgemalten Wolken. Dies ist sein Ausbruch aus einer von Menschenhand erschaffenen, plastischen Welt ohne dreidimensionale Tiefe. Was die Macher des Films entwickeln, ist nicht nur eine Satire auf die voyeuristische Medienindustrie, »The Truman Show« spielt mit Fremdem und Vertrautem, mit Raumvorstellungen und Grenzen.

Nach dem sogenannten »Spatial Turn«, mit dem ab den 1980ern ein Paradigmenwechsel vollzogen wurde, manifestierte sich in den Kultur- und Sozialwissenschaften ein neues Bild des Raumes: Der Raum stellt nicht dualistisch Menschen und Objekten gegenüber, er wird durch beide geformt, entwickelt sich aus ihnen und den vielfältigen Beziehungen beider Bestandteile zueinander. Besonders die soziale Komponente ist hier von großer Bedeutung.

David Krause (geboren 1988 in Köln, unter anderem Preisträger des Leonce-und-Lena-Preises 2015) vollzieht in seinem Gedicht eine Raumdurchmessung. Den Text begleitet die Spannung der eigenen Grenzsuche, der nahezu aussichtslosen Ermittlung von Übergangszuständen. In diesem Komplex ist stets präsent, was »Fremdgehen, jung bleiben« als zentrales Thema ausgerufen hat: »Grenzen (aus: Ozeanien – eine innere Reise) « widmet sich den sozial konstruierten Räumen Fremd/Vertraut und deren Widersprüchlichkeit für das lyrische Ich.

Von der Grenzerfahrung des Fallschirmspringens in Neuseeland ausgehend bewegt sich Krause stets auf eine Zwischenebene zu: »In den Mittelstreifen der Highways sah ich /
Gedankenstriche.« Die Selbstreflexivität, die Suche nach dem Punkt, an dem die »Reise«, die das lyrische Ich antritt, in einen selbst mündet, zieht sich von Beginn an durch den ganzen Text. Die Betrachtung des Egos aus einem externen und gleichzeitig internen Standpunkt führt einen zurück aus der vermeintlichen Fremde in die vertraute Heimat (»Ich kehrte zurück von den Reisen / und die Dinge erschienen mir fremd / in ihrer Vertrautheit«.). So spiegelt sich auch hier wider, was für Krauses Text von wesentlicher Bedeutung ist: Die Schwierigkeit, Begriffe und Gefühle klar zu trennen bzw. Distinktionen für einen selbst ausfindig zu machen. Das Ich begibt sich in den sozialen Raum »Heimat« und unternimmt den Versuch, diesen zu dekonstruieren. »Ich möchte die vertrauten Dinge verlieren, / wie Notizen über sie im Laub.« Keine Liebe, kein Leben scheint möglich zu sein – ohne definierbare Grenzen.

Und so möchte man fast zurückdenken an die tragische Figur des Truman, der ausbricht aus einem für ihn konstruierten Raum, der auf Reisen geht auf der Suche nach Wahrhaftigkeit. »Grenzen (aus: Ozeanien – eine innere Reise)« thematisiert ein hochaktuell politisches und philosophisches Problem in einer wunderbar fließenden Sprache. Man fühlt sich hineingesogen in diesen Strudel der Grenzermittlung und doch befällt einen ein erstaunliches Gefühl der Losgelöstheit, wenn sich der Text in der Berührung der Wassermassen auflöst. Denn dies macht einem deutlich: Die Jagd nach Grenzen ist eine Suche nach stabilen Räumen, die es so nicht gibt.
 

Grenzen (aus: Ozeanien – eine innere Reise)

Ich sah die Fallschirmspringer morgens
am Lake Taupo zu Beginn meiner Reise
und ich fragte mich, wo der Punkt war,
an dem ihr Fallen zu einem Schweben wurde.
In den Mittelstreifen der Highways sah ich
Gedankenstriche. Es gab diese Grenze,
wo ich nicht mehr weiterkam,
weil ich in die Erinnerung reiste.
Ich versuchte, den Punkt zu bestimmen,
an dem die Reise in mich selbst führt
und hörte auf, mich zu erinnern.
Ich kehrte zurück von den Reisen
und die Dinge erschienen mir fremd
in ihrer Vertrautheit: Die Routen
durch meine Stadt, der Weg
durch mein dunkles Haus bei Nacht,
lange Gespräche mit Freunden.
Ich möchte die vertrauten Dinge verlieren,
wie Notizen über sie im Laub.
Und es schmerzt, nichts bewusst verlieren,
sondern nur zurücklassen zu können.
Was mir bleibt, ist die Hoffnung,
irgendwann so weit zu reisen, so stark
zu schreiben, dass sie verschwinden.
Du aber warst mir vertraut in der Fremdheit
deiner Lippen, als ich sie küsste,
unter uns eine Picknickdecke
wie eine Landkarte und ich fühlte,
wie falsch es war, auf diese Weise zu lieben,
wie unmöglich Leben geworden war,
da ich die Grenzen nicht kannte
zwischen Fallen und Schweben,
zwischen Reisen und Erinnern,
zwischen einem Land und einem Körper.
Und ich dachte noch einmal an den Norden
Neuseelands, wo sich die Meere berühren.
 

© David Krause, Kerpen

+ Zum Autor

 

Leander Beil. Foto: Volker Derlath
Leander Beil. Foto: Volker Derlath

Leander Beil, geboren 18.08.1992 in München, lebt und studiert nach mehrjährigem Brasilienaufenthalt in München. Mitglied des Münchner Lyrik-Kollektivs »JuLy in der Stadt« (www.julyinderstadt.de). Erste Lyrikveröffentlichungen in »Drei Sandkörner wandern« (Deiningen, Verlag Steinmeier 2009), Versnetze 2/3 (hg. von Axel Kutsch, Weilerswist, Verlag Ralf Liebe 2009), NRhZ-Online (Literatur), »Die Hoffnung fährt schwarz« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Ois is easy« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Der deutsche Lyrikkalender 2012« (Boosstraat, Alhambra Publishing 2011), www.lyrikgarten.de (Online Anthologie des Anton G. Leitner Verlags), DAS GEDICHT Bd. 17, Bd. 18, Bd. 19, Bd. 22, Bd. 23 (Weßling, Anton G. Leitner Verlag), »Pausenpoesie« (Weißling, Anton G. Leitner Verlag 2015).
Alle bereits erschienenen Folgen von »Fremdgehen, jung bleiben« finden Sie hier.

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