von Erich Jooß
»Der verschlossene Raum«, so überschrieb Jan Wagner seine »Münchner Rede zur Poesie«, die er 2012 im Lyrik-Kabinett gehalten hat. Sie ist inzwischen in einer Sammlung mit »beiläufiger Prosa« dokumentiert. Auch für diesen 2017 herausgekommenen Essayband hat Jan Wagner den Titel »Der verschlossene Raum« gewählt – ein Hinweis darauf, wie wichtig ihm der Begriff ist. Auf 26 Seiten liefert die Rede einen Schlüssel zum Werk des Dichters und entfaltet gleichzeitig eine kleine Poetologie der modernen Lyrik. Ausgehend vom »Locked Room Mystery« der Detektivgeschichte beschreibt Wagner den »verschlossenen Raum« des zeitgenössischen Gedichts: verschlossen deshalb, weil der Leser, sobald er diesen Raum betritt, in einen Zustand gerät, »der jenseits des Gewohnten liegt«, in dem »Paradoxien nicht nur möglich sind, sondern die Regel«. So gesehen ist der »verschlossene Raum« gleichzeitig der offenste überhaupt. Denn er lässt die größtmögliche Freiheit zu, lädt den Leser zum Staunen ein und hält für ihn das Unerwartete bereit. Mag sein, dass die argumentativen Volten von Jan Wagner das Problem der Hermetik etwas zu rasch erledigen. Aber sie werfen auch die Frage auf, ob das alles nicht genauso für das Kindergedicht gilt. Auch das Kindergedicht scheint für viele lyrikentwöhnte Leser und Literaturvermittler ein Raum zu sein, den sie nicht betreten, dessen Geheimnisse sie nicht aufdecken wollen. Vielleicht noch mehr trifft das auf die Verantwortlichen in den Verlagen und auf die Literaturvermittler zu. Sie alle kehren um vor der verschlossenen Tür und merken nicht einmal, dass der Schlüssel im Schloss steckt. Wer die Analogie weiterdenkt, kommt zu der kaum noch überraschenden Feststellung, dass es zwischen dem Kindergedicht und dem Erwachsenengedicht zahlreiche Übereinstimmungen gibt. Beide sind sich näher als Kritiker glauben und beide können, wofür es viele Beispiele gibt, die Plätze tauschen, ohne dass es Erwachsene oder Kinder merken würden.
Ein häufig zitiertes Beispiel dafür sind die zwölf Bände in chinesischer Broschur der Ravensburger Taschenbuchreihe »Gedichte«, die Uwe-Michael Gutzschhahn an der Wende von den achtziger zu den neunziger Jahren konzipiert hat. Die Autoren, die in der Reihe auftauchen, will ich hier gar nicht alle aufzählen, nur stellvertretend Erich Fried und Christa Reinig, Friederike Mayröcker und Oskar Pastior, Günter Grass und Sarah Kirsch nennen. Auf den ersten Blick verbindet die Namen wenig oder nichts mit der Kinderlyrik. Der zweite Blick des Herausgebers hat freilich im Werk der Autoren Gedichte entdeckt, die Kinder genauso wie Erwachsene ansprechen. Gutzschhahn ist es mit seinem Verlagscoup gelungen, den verschlossenen Raum dieser Gedichte zu öffnen. Seitdem lassen sie sich noch ganz anders als zuvor buchstabieren, sie zeigen sich von einer neuen Seite, wie überhaupt Gedichte – wenn sie überleben wollen – offen sein müssen für sehr unterschiedliche Assoziationen und Identifizierungsmöglichkeiten. Leider blieb das bewunderte Beispiel der RTB-Gedichte ohne Nachfolge. Warum, so ließe sich kritisch nachhaken, gibt es bis heute keine Anthologie mit Kindergedichten, die aus dem Werk von Erwachsenenautoren ausgewählt wurden? Der Fundus dafür wäre groß und verlockend. Weil so ein Buch nicht existiert, tröste ich mich (und Sie) mit einem Gedicht des Berliner Kunstprofessors, Graphikers, Fotografen und Dichters Jürgen Spohn, entnommen der RTB-Reihe. Wer ein Langzeit-Gedächtnis hat, benötigt keine Interpretationshilfe für den Nach-Tschernobyl-Text, der im Übrigen durch die Abgasdiskussion in unseren Tagen neue Aktualität erhalten hat. Kinder wie Erwachsene fragen sich beim Lesen des Gedichts unweigerlich: Bin ich vielleicht auch ein Hase? »Mein Name ist Hase / Ich grase im Grase // Es regnet Strahlen / und Blei und Gase // Ich grase im Grase / Mein Name ist Hase.«
Wenn in den letzten Jahren und Jahrzehnten Kindergedichte verlegt wurden, dann fast ausschließlich in illustrativ herausgeputzten Anthologien, die Gewichtigkeit vortäuschten, indem sie das klassische Feld der Kinderlyrik bestellten und sich Neuentdeckungen, falls überhaupt, nur in homöopathischer, weil geschäftsunschädlicher Dosis gestatteten. Eine Ausnahme sind die Gedichtsammlungen von Hans-Joachim Gelberg. Sie lassen erahnen, wie reich in unserer Literatur die Szene an talentierten Lyrikern ist. Trotzdem konnten nur wenige dieser Lyriker einen eigenen Band mit Kindergedichten publizieren. Die alte Frage nach der Henne und dem Ei wiederholt sich hier: Sind es die Verlage, die das Risiko scheuen oder ist es der Markt, der kein Risiko zulässt? Das Risiko lässt sich anscheinend nur dann minimieren, wenn ein Verlag seiner Anthologie den Allerweltstitel »Die schönsten Kindergedichte« verpasst, einen populären Herausgeber sucht, in unserem Fall war dies Max Kruse, und mit Katja Wehner eine pfiffige, phantasiefreudige Buchkünstlerin präsentiert. Das Ergebnis brachte es im Berliner Aufbau-Verlag zwischen 2003 und 2008 auf immerhin vier Auflagen. Natürlich lebt auch diese Anthologie von beliebten, weithin bekannten Texten. Sie arbeitet den Kanon des 18. und 19. Jahrhunderts gewissenhaft ab, bevor sie im 20. Jahrhundert mit Überraschungen aufwartet. Dass Max Kruse den »Vorfrühling« von Hugo von Hofmannsthal und Friedrich Nietzsches »Venedig« in die Sammlung aufnahm, dürfte seiner literarischen Sozialisation geschuldet sein. Aber er berücksichtigte auch ein sperriges Gedicht von Dorothee Sölle, das die Möglichkeiten des Glücks angesichts der »alles beherrschenden kälte« konjugiert. Daneben begegnet der Leser Christine Lavant und Karl Krolow, Günther Eich und vor allem Elisabeth Borchers, die viele bemerkenswerte Texte zur zeitgenössischen Kinderlyrik beigetragen hat. »Oktober« ist so ein Gedicht, gewidmet dem Monat, in dem die Luft »bitter« schmeckt und die Vögel »über alle Berge« sind. Je einfacher ein Gedicht beschreibt, was in uns und in unserer Welt vor sich geht, umso offener wird es. Doch gleichzeitig – das ist das Paradoxon – hat selbst das offenste Gedicht ein vieldeutiges Gehäuse und kennt Sätze und Bilder, in denen die Dunkelheit mit ihren Fragen lauert. Das spürt jeder, der Gedichte – eine Formulierung der mährischen Dichterin Milena Fucimanová (Übersetzung von Reiner Kunze) – »verletzbar« hört: »Aufs Dach trommeln / Kastanien / Die kleinen Tiere gehen / unter der Erde spazieren …«
Armin Abmeier, der verstorbene Mann von Rotraud Susanne Berner, war zeitlebens ein Büchersammler und Bücherentdecker, der vor allem ein Faible für künstlerisch gestaltete Bücher hatte. 2006 gab er im Carlsen Verlag ein »Mehrgenerationen-Buch« heraus, lange bevor »All Age« zur Modevokabel wurde. Der erfolgreiche Band »Hör zu, es ist kein Tier so klein, das nicht von dir ein Bruder könnte sein« kombiniert Gedichte aus den unterschiedlichsten Quellen mit ebenso unterschiedlichen, eigens für das Buch entworfenen Bildern. Auf jeden unverwechselbaren Text antwortete ein Künstler mit einem unverwechselbaren Bild. Den Herausgeber kümmerten dabei weder Lese- noch Sehgewohnheiten. Erfolgreich wurde der Band vielleicht gerade deshalb, weil er Grenzen überschritt. Gedichte, ursprünglich nicht für Kinder geschrieben, fordern plötzlich Kinder heraus, die mit ihrer Hilfe unbekannte Räume betreten und erschrecken, weil das Gedicht erschrickt. Der Stich ins Herz, den Ernst Meister empfindet, ist ein Stich auch ins Herz des lesenden oder zuhörenden Kindes. Gleichzeitig merkt es intuitiv, dass die Sprache, die Form, dem Schweren eine befreiende Leichtigkeit geben kann. Auch diese Erfahrung benennt Jan Wagner in seiner »Münchner Rede zur Poesie«: »Schwalben vor grenzenloser / Abendlichtung, ihr / Stich um Stich / durchs Lüftegewebe …«
Die Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit ist eine Zäsur im Leben jedes Kindes, und es gibt gute Gründe, die Zäsur, falls möglich, zeitlich hinauszuschieben. Die Anthologie von Armin Abmeier enthält eine Fülle weiterer Themen, die sich im Rahmen dieses Aufsatzes nicht annähernd ausschöpfen lassen. Unter den Texten findet sich auch ein Gedicht von Sarah Kirsch, dessen altertümlicher Titel »Bewandtnis« nicht nur Kindern, auch Erwachsenen Rätsel aufgibt. Es ist ein Gedicht auf den Pfau, den Vogel der Unsterblichkeit. In der Capella Baglioni in Spello steht er selbstbewusst auf dem betlehemitischen Stall. Sarah Kirsch dagegen setzt ihn auf einen Schornstein, und trotz dieser Reduktion auf das Banale bewahrt er seine mythische Würde. In der Dunkelheit wächst er sich aus zu einer magischen Größe, die auf »das dünne Mondlicht« angewiesen ist, denn jedem Zauber liegt ein Zaubertrick zugrunde … Der Morgen aber kann nur hell werden durch den Pfau. Mit seinem Auge hat er das Fenster bedeckt und verwandelt, jetzt fliegt er davon. Wer die Zeilenbrüche (und Satzbrüche) mit den Kindern korrekt liest, ermöglicht ihnen den Zugang zu einem Meisterwerk: »Der Pfau verachtet den Hühnerstall lieber / Sitzt er nachts auf dem Schornstein / Wärmt sich den Steiß …«.
Für die Beantwortung der Frage, wo und wie sich zeitgenössische Erwachsenenlyrik und Kinderlyrik begegnen, reicht es nicht aus, bloß Anthologien heranzuziehen, die einer Vermischung von Genres und Alterszuschreibungen ohnehin reserviert gegenüberstehen, weil sie in der Regel publikumstypische Bedürfnisse bedienen müssen. Etwas anders sieht es bei lyrischen Einzelveröffentlichungen aus. Wer sucht, wird hier überraschend oft fündig. Ich greife lediglich zwei Autoren heraus, die stellvertretend für viele andere stehen. Da ist zunächst Günter Bruno Fuchs mit seiner typischen Mischung von Ernst und Unernst. Er hat eines der schönsten Bilderbücher der letzten Jahrzehnte getextet und illustriert: »Ein dicker Mann wandert«, 1964 im Middelhauve Verlag erschienen, 1995 wiederaufgelegt im Hanser Verlag. Die einfache, unambitionierte Sprache von Fuchs macht es Kindern wie Erwachsenen leicht, sich auf seine Gedichte einzulassen. Poesie wird hier nicht, wie so häufig in der zeitgenössischen Kinderlyrik, durch ein Stakkato von ver-rückten Bildern erzeugt. Sie vermittelt sich nicht im Überfluss des Beschriebenen, sondern in der Ruhe, in der Konzentration. Dahinter kommt freilich eine kreative Renitenz zum Vorschein. Nur zu gern würden wir der Katze Echnaton, die uns in dem Lyrikband »Brevier eines Degenschluckers« (Carl Hanser, München 1960) vorgestellt wird, ihre Arglosigkeit glauben. Oder ist dies nur eine behauptete Arglosigkeit und damit eine arglistige Täuschung? »Katzenmarkt«, so lautet der Titel des Gedichts, das 1957 in Paris entstand: »Diese / kleine Katze geht auf ihren Vorderfüßen / diese / graue Katze sagt nicht nur um Mitternacht Miau / diese / schwarze Katze flirtet mit der weißen Milch …«.
Anna Jonas publizierte in den frühen achtziger Jahren zwei Gedichtbände. Danach hat sich die viel besprochene und hoch eingeschätzte Autorin aus der Literatur verabschiedet. Ihre Sprechgedichte stellen unsere Begriffswelt auf den Kopf – oder auf die Füße, je nach dem Standpunkt des Betrachters. Sie sind laut- und wortmalerische Umkreisungen einer Welt, die sich nicht mehr eindeutig fassen lässt. Das gewollte Durcheinander der Bilder, die wilden, schrägen Assoziationen haben Spielcharakter und kommen schon dadurch Kindern entgegen. Ihre verschlossenen Räume laden dazu ein, sie aufzuschließen und mit den vorgefundenen Materialien dort kreativ weiter zu arbeiten, wo die Autorin aufgehört hat. Mit seinem Reihencharakter verleitet dazu auch das »Lied für Beatriz und Daniel«, das in dem Band »Sophie und andere Pausen« (Rotbuch Verlag, Berlin 1984) erschienen ist. Die Schlusszeilen lauten: »Ich geh gleich nach Hause / der Fischer macht Pause / der Hahn ist gebraten / ich hol schnell den Spaten / das Haus steht in Flammen / das Boot wird uns rammen …«.
Wer von Kindergedichten nur erwartet, dass sie mit Bildern jonglieren und die Absurditäten des Lebens zu einem billigen Amüsement degradieren, übersieht ihre subversiven Möglichkeiten. Auch überzeugende Kindergedichte sind – wie die Gedichte für Erwachsene – zunächst und zuerst verschlossene Räume. Sie kennen mehr Fragen als Antworten und für ihre Autoren gilt, was Uwe-Michael Gutzschhahn apodiktisch so formuliert hat: »Beim Schreiben gibt es keine Adressaten, sondern nur Idee, Bild, Sprache.« Manchmal ist den Kindergedichten sogar eine Schwärze eingeschrieben, die man bei ihnen nicht vermutet – und eine innere Widersprüchlichkeit, die sich dem gesellschaftlichen Konformitätsdruck verweigert. Das alles ist in einem bisher unveröffentlichten Gedicht von Uwe-Michael Gutzschhahn enthalten. Ich möchte den Text an das Ende meiner Ausführungen setzen, weil er mit dem Begriff des Märchens auf eine geradezu diabolisch-assoziative Weise spielt und dabei die Balance hält zwischen Ernst und Unernst. Mein Fazit: Jedes Märchen ist wahr und jedes gute Kindergedicht verdankt sich einem großen Sprachspieler und Sprachverwirrer, einem originellen Denker in Bildern:
Märchen
Ich bin deine alte Tante,
schau auf mein güldenes Haar.
Weil ich dich im Ofen verbrannte,
heißt’s, ich bin im Kopf nicht mehr klar.
Märchen, Märchen, Märchen!
Wir zwei sind ein Liebespaar.
Ich schenk dir ein winziges Härchen
und unsre Geschichte wird wahr.
Vortrag von Erich Jooß beim Internationalen Colloquium der Redaktion DAS GEDICHT »Die Zukunft der Poesie« am Dienstag, den 24.10.2017 in Benediktbeuern (in Zusammenarbeit mit dem Bezirk Oberbayern).
Das Requiem für Erich Jooß findet am morgigen Donnerstag, den 9.11.2017, um 10.30 Uhr in der Michaelskirche in München statt.