»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Holger Paetz
Bayerischer Herbst
Horst, es ist Zeit.
Nun bist du nicht mehr groß.
Wirfst zwar noch Schatten auf den Landtagsfluren.
Doch alle Uhren ticken gnadenlos.
Gebiete den Gerüchten still zu sein!
Es wispert zäh vom Ende deiner Tage.
Verdränge Hoffnungslosigkeit und Niederlage,
verheiß Jamaika! Oder – sieh es ein:
Wer nicht gesiegt hat, siegt so bald nicht mehr.
Und wer dran schuld ist, wird es lange bleiben,
wird weinen, fluchen, auch Konzepte schreiben
und wird in leeren Gängen hin und her
verloren wandern, bis sie ihn vertreiben.
© Holger Paetz, München
+ Das Original
Rainer Maria Rilke
Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
+ Zum Autor
Holger Paetz, geboren 1952 in München, wo er heute auch lebt, ist Kabarettist, Song-Poet, Autor und Schauspieler. Aufgewachsen in Aschaffenburg, ging er zum Studium an der philosophischen Fakultät nach Würzburg, es erfolgte schließlich ein »Abbruch ohne Wehklagen von beiden Seiten«, wie Paetz es beschreibt. Paetz begann seine künstlerische Karriere, wurde 1976 mit dem Liedermacherpreis des Hessischen Rundfunks ausgezeichnet und zog 1977 nach München, wo er sich in der Kleinkunstszene etablierte und nebenher Friedhofsgärtner, Kellner und Archivar war. Seine Solo-Programme führten ihn schließlich bis auf die großen Kabarettbühnen der Republik sowie in die bedeutenden Kabarettfernsehprogramme, etwa »Scheibenwischer«, »Mitternachtsspitzen«, »Ottis Schlachthof«. Von 1999 bis 2009 war Paetz Autor des Nockherberg-Singspiels, dort gab er zudem den FDP-Politiker Guido Westerwelle. Paetz wurde u. a. mit dem Salzburger Stier (Pate: Dieter Hildebrandt; 1996), dem Kabarettpreis der Landeshauptstadt München (1999) und dem Schwabinger Kunstpreis (2013) ausgezeichnet. Aktuelles Soloprogramm: »Ekstase in Würde«. In Buchform sind von ihm erschienen: die Gedichtbände »Der Hausverlasser« und »Pure Lyricks« (Holger Paetz Verlag 2017 bzw. 2016).
www.holger-paetz.de und
www.paetz-verlag.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.