»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Renate Meier
volkslied in moll
wir sind so lange beisammen
du hast dich von mir schon entfernt
wohin werden wir noch gelangen
die liebe ist längst schon entkernt
mit eifersucht willst du mich halten
dabei gibt es gar keinen grund
das lässt mir mein herz nur erkalten
beendet nur unseren bund
du nörgelst an allem und jedem
ich mache dir nie mehr was recht
so will ich länger nicht leben
ich mache mich auf ich geh weg
© Renate Meier, Meckenheim
+ Das Original
Das Vorbild für Renate Meiers »volkslied in moll« ist »Lied. Mäßig bewegt« von Ulla Hahn. Inhaltlich und formal lässt sich eine deutliche Orientierung am Original feststellen, wobei Meier jedoch auch in beiden Bereichen ganz eigene Akzente setzt. Im Formalen etwa folgt sie mit Vers- und Strophenzahl, Anzahl der Hebungen (drei) und Kadenz- sowie Reimschema dem Vorbild, setzt aber, statt wie dieses auf einen strikten Trochäus, auf freiere Versformen, die im Wesentlichen amphibrachisch geprägt sind. Durch Letzteres wird der Liedcharakter des Textes deutlich unterstrichen bzw. mitgeprägt.
Hinsichtlich des Inhalts ist festzuhalten, dass in beiden Fällen ein Abgesang auf eine Paarbeziehung aus weiblicher Perspektive vorliegt (wobei sich diese aber auch jeweils umdrehen ließe), zugleich ist in beiden Fällen das Beziehungsende nicht zwingend, so dass jeweils etwas Schwebendes das Ende kennzeichnet. Jenes wird bei Hahn allerdings auch dadurch erreicht, dass ihr lyrisches Ich rückwirkend die ganze Beziehung in Frage stellt, sie im Konjunktiv formuliert (siehe u. a. die Eingangsverse: »Du bist zu mir gekommen / als kämest du zu mir«) und sich am Ende gar von sich selbst distanziert (»da sang ich dieses Liedchen / als ob ich’s selber wär«).
Bei Meier hingegen gab es eine echte Beziehung – sie hat sich nur totgelaufen und soll deswegen aufgelöst werden, wie ihr lyrisches Ich beschließt. Doch, und hier entsteht auf andere Art der Schwebezustand, bleibt unklar, ob dies Vorhaben auch in die Tat umgesetzt wird, weil dies der Text nicht mehr ausformuliert und weil Beziehungsenden im Allgemeinen weitaus häufiger vorgenommen als realisiert werden. Nicht wenige Ehen sollen, so hört man, am Punkte eines solchen Entschlusses stehengeblieben und gleichzeitig noch Jahre und Jahrzehnte weitergelaufen sein.
Anders als bei Hahn ist bei Meier das lyrische Ich allerdings nicht rein passiv, und (wahrscheinlich) anders als bei Hahn liegt dem männlichen Gegenüber auch noch am weiblichen lyrischen Ich, ja, er kämpft gar (wenn auch ungeschickt) um es. Zudem geht’s bei Meier in der Situationsbeschreibung konkreter und alltäglicher zu.
+ Zur Autorin
Renate Meier, geb. 1950 in Elmshorn, Dip.-Bibl., lebt seit 1983 in Meckenheim bei Bonn. Begann 1990 Gedichte zu schreiben, seitdem alljährlich im »Verschenk-Calender« (hg. v. Ursula Dahm und Rainer Breuer; éditions trèves) vertreten. Weitere Veröffentlichungen in Anthologien, u. a. in »Mach dein erstes Türchen auf! – Neue Gedichte zur Weihnacht« (hg. v. Anton G. Leitner, Reclam) und in »Jubeln & Feiern« (hg. v. David Westphal, Lyrikgarten.de).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.