»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Jan-Eike Hornauer
Halbzeitbetrachtung
Die Hälfte des Lebens ist jetzt geschehen
(statistisch gesehen, füg’ ich hinzu;
und dass ich dies kann, das ist schon ein Clou,
erzwang doch mein Herz bereits fast mein Gehen).
Was hab’ ich gelernt, was konnt’ ich erreichen,
ja, was lässt sich sagen im Resümee?
Am Ende ist alles und nichts ganz okay.
Und manchmal, da muss man die Wände neu streichen.
Wozu und weshalb bin ich hier auf der Erde,
dem kleinen Planeten im endlosen All?
Ich werd’ es nie wissen, das ist wohl der Fall.
Ich lebe nur weiter, ruf’ great mal, mal merde.
Die Hälfte vergangen; was hat’s zu bedeuten?
Im ewigen Tosen tickt meine Zeit
bloß leise und kurz. Dann ist es so weit.
Durch Leben und Tod will ich aufrecht schreiten.
© Jan-Eike Hornauer, München
+ Das Original
Friedrich Hölderlin
Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
+ Zum Autor
Jan-Eike Hornauer, geboren 1979, lebt als freier Textzüchter (Autor, Herausgeber, Lektor und Texter) in München. In Lübeck auf die Welt geworfen, aufgewachsen in Hausen bei Aschaffenburg, Studium der Germanistik und Soziologie in Würzburg. Seine literarischen Schaffensschwerpunkte sind: Lyrik (u. a. komische Gedichte) und Kurzgeschichten unterschiedlichster Stimmungslage. Er ist zweiter Vorsitzender des Münchner Künstlervereins »Realtraum«, freier Redakteur bei »DAS GEDICHT blog« sowie Mitglied der »Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik« (GZL, Leipzig). Zuletzt von ihm erschienen sind sein zweiter Solo-Lyrikband »Das Objekt ist beschädigt – zumeist komische Gedichte aus einer brüchigen Welt« (muc Verlag 2016) und »Wenn Liebe schwant«, eine Anthologie mit neuen komischen Liebesgedichten zeitgenössischer Poeten (muc Verlag 2017). Dazu Veröffentlichungen in Anthologien (u. a. erschienen bei Reclam und dtv), in Literaturzeitschriften (wie Das Gedicht, Versnetze, Flandziu, Poesiealbum neu, Poesie Agenda, etcetera, Dichtungsring, Schreibkräfte) und Publikumsmedien (z. B. Main-Echo sowie WDR 3 und 5).
Auf »DAS GEDICHT blog« hat er u. a. mehrere Online-Anthologien verantwortet, zu denen er auch je eigene Beiträge beigesteuert hat (etwa »Wenn Liebe schwant III« und »Vom Leder gezogen – zur EM 2016 in Frankreich«). Zusammen mit Alex Dreppec und Fritz Deppert hat er hier überdies die Reihe »Lockdown-Lyrik« herausgegeben, in der zahlreiche Poetinnen und Poeten den ersten Corona-Shutdown unmittelbar lyrisch begleitet und kommentiert haben. www.Textzuechterei.de/autor.html
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.