»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Jan-Eike Hornauer
Alles ist sinnlos
ein altes Lied in neuen Strophen
(vor dem Hintergrund transzendentaler Obdachlosigkeit)
Es herrscht, wohin man blickt, Vergänglichkeit auf Erden.
Das Mädchen, das entzückt, droht Mutter bald zu werden.
Und wer heut klug noch spricht, ist morgen schon dement.
Die Zeit begnadigt nicht. Sie nagt, zerstört, verbrennt.
Des Gryphius Schäferwiese ist längst schon Friedhofsfläche;
uns allen gilt die miese, die ewig gleiche Zeche.
Und wer die Welt erträumt, ist bald bar Fantasie.
Es wird ganz schnell gezäumt Idiot wie auch Genie.
Ja, alles löst sich auf, zebröckelt, bricht zusammen
im steten Zeitenlauf, und wenn wir’s auch verdammen.
Da ist kein Kampf, kein Flüchten, ist nichts, was retten kann.
Du kannst nur Hoffnung züchten – und siehst sie welken dann.
Der Mensch, er ist verloren, und dies von Anbeginn.
Er ist zu nichts erkoren. Drum hat auch nie was Sinn.
© Jan-Eike Hornauer, München
+ Das Original
Andreas Gryphius
Es ist alles eitel
Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein;
Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein,
Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.
Was itzund prächtig blüht, soll bald zutreten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein;
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.
Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
Ach, was ist alles dies, was wir vor köstlich achten,
Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind,
Als eine Wiesenblum’, die man nicht wiederfind’t!
Noch will, was ewig ist, kein einig Mensch betrachten!
+ Zum Autor
Jan-Eike Hornauer, geboren 1979, lebt als freier Textzüchter (Autor, Herausgeber, Lektor und Texter) in München. In Lübeck auf die Welt geworfen, aufgewachsen in Hausen bei Aschaffenburg, Studium der Germanistik und Soziologie in Würzburg. Seine literarischen Schaffensschwerpunkte sind: Lyrik (u. a. komische Gedichte) und Kurzgeschichten unterschiedlichster Stimmungslage. Er ist zweiter Vorsitzender des Münchner Künstlervereins »Realtraum«, freier Redakteur bei »DAS GEDICHT blog« sowie Mitglied der »Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik« (GZL, Leipzig).
Zuletzt von ihm erschienen sind sein zweiter Solo-Lyrikband »Das Objekt ist beschädigt – zumeist komische Gedichte aus einer brüchigen Welt« (muc Verlag 2016) und »Wenn Liebe schwant«, eine Anthologie mit neuen komischen Liebesgedichten zeitgenössischer Poeten (muc Verlag 2017). Dazu Veröffentlichungen in Anthologien (u. a. erschienen bei Reclam und dtv), in Literaturzeitschriften (wie DAS GEDICHT, Versnetze, Flandziu, Poesiealbum neu, Etcetera und Poesie Agenda) und Publikumsmedien (z. B. Main-Echo sowie WDR 3 und 5).
Auf »DAS GEDICHT blog« hat er u. a. mehrere Online-Anthologien verantwortet, zu denen er auch je eigene Beiträge beigesteuert hat (etwa »Wenn Liebe schwant III« und »Vom Leder gezogen – zur EM 2016 in Frankreich«). Zusammen mit Alex Dreppec und Fritz Deppert hat er hier überdies die Reihe »Lockdown-Lyrik« herausgegeben, in der zahlreiche Poetinnen und Poeten den ersten Corona-Shutdown unmittelbar lyrisch begleitet und kommentiert haben.
Textzuechterei.de/autor.html
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.