In »Februar, grausamster Monat« setzt sich Birgit Müller-Wieland intensiv mit T. S. Eliots epochalem Langgedicht »The Waste Land« (»Das wüste Land«) auseinander. Insbesondere bezieht sie sich dabei auf dessen ersten Teil, »The Burial of the Dead« (»Die Beerdigung der Toten«) – dessen längst schon kanonischen Einstieg »April is the cruellest month« sie denn auch übersetzt und leicht variiert als zentralen Vers nutzt. Aber auch später vorkommende Motive (etwa jenes von Kreuzigung, heiligem Gral und heiligem Land) sowie die bereits in der Vorrede von Eliot erwähnte Figur der Sibylle, einer antiken Orakelpriesterin, schlagen sich in ihrem Nachbild nieder.
Wie Eliot vereinigt dabei auch Müller-Wieland persönliche Empfindung mit Welt- und Gesellschaftskritik. Dabei geht sie, ebenfalls ganz wie ihr Vorbild, von einem unsäglichen, kaum zu ertragenden Monat aus (bei ihm ist’s noch der April, bei ihr hingegen schon der Februar, doch einen schlimmen Flieder- und Fieber-Traum, wenn man so will, bescheren beide). Und sie befleißigt sich ebenso des hohen Tons und der Ausgriffe ins Biblische und Mythische, in fern-warme Landschaft zudem, vergisst dabei die moderne Jetzzeit ebenfalls nicht. München als Ausgangsort bleibt überdies auch.
Und dass der Text mit starken interkulturellen Bezügen ausklingt, ist ebenfalls im Nachbild gegeben. So paraphrasiert Birgit Müller-Wieland zum Ende hin etwa Walter Benjamins »Engel der Geschichte« (wobei sich ihr Engel der Zukunft zuwendet, gerade nicht weiter nur die Schrecken der Vergangenheit wahrnimmt) und spielt im letzten Vers auf den autobiografischen Roman »Da geht ein Mensch« des jüdisch-ukrainischen Schauspielers Alexander Granach an, der in den 1920ern zu den Stars der deutschen Theater- und Filmlandschaft zählte – jener heißt »Da geht ein Mensch« und hat einen der bekannteren Romaneinstiege der Weltliteratur, nämlich diesen: »Die Erde in Ostgalizien ist schwarz und saftig und sieht immer etwas schläfrig aus, wie eine riesige fette Kuh, die dasteht und sich gutmütig melken lässt.«
Dabei sind aber die Unterschiede zugleich immens: Die oft prosanahe Erzählweise des Originals wird aufgehoben, der hohe Ton nicht nur angeschlagen, sondern beibehalten, unter anderem durch die gleichförmigen Strophen mit immergleichem Einstieg und starke rhythmische Prägung ein durchweg liedhafter Charakter erzeugt. Und hinzu kommt das freilich Offensichtlichste: Statt mit 434 Versem haben wir es hier nun lediglich noch mit 30 zu tun – es darf also von einer moderaten Kürzung gesprochen werden.
Das Bild, das Müller-Wieland zeichnet, ist apokalyptisch, kalt, überhöht, treffend gegenwärtig (und das nicht nur, weil das Laptop-Motiv auftaucht), biblisch aufgeladen und bei allem am Ende auch (ebenso wie das Original, das mit einem dreifachen »Shanti«, also »Frieden«, ausklingt) hoffnungsvoll. Müller-Wieland hat sich das große Vorbild anverwandelt – und ihren eigenen Abgesang aufs Jetzt daraus gemacht.
Eliot selbst hat sich übrigens durchaus gegen eine zu starke Vereinnahmung seiner Verse gewehrt und, was gewiss sicher weder ganz korrekt noch vollkommen falsch ist, zu »The Waste Land« behauptet: »Für mich war es nur das Ventil für einen privaten und ganz belanglosen Grant gegen das Leben; es ist lediglich ein Stück rhythmischer Quengelei.«
Nun, bei ihm war es schon mehr als nur das, und auch Müller-Wielands Nachbild reicht weit über persönliche Befindlichkeiten hinaus. Doch eines ist, was die behauptete Ausgangslage angeht, zumindest absolut nachvollziehbar: Wetterlagen schlagen sich leicht aufs menschliche Gemüt nieder, und die Weltsicht ist in und nach kalt-grauen Monaten selten eine besonders heitere. Tröstlich immerhin, dass wohl jeder das kennt. Und dass hieraus Verse wie jene von Eliot und von Müller-Wieland enstehen.
Hier geht’s »The Waste Land« von T. S. Eliot im Original: https://www.poetryfoundation.org/poems/47311/the-waste-land
Und hier findet sich eine Übersetzung (»The Waste Land« ins Deutsche übertragen von Karl Heinz Göller): https://epub.uni-regensburg.de/26753/1/ubr13461_ocr.pdf