»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Manfred Schlüter
Widerspruch der Möwen
In Erinnerung an einen
Christian namens Morgenstern
Die Möwen sehen alle aus,
als ob sie Emma hießen …
»Wer sagt denn sowas?«, schreien die Möwen.
»Martha, Metha, Greta! Die sehen anders aus.
Auch Tilla und Ludmilla!«, schreien die Möwen.
»Und Lara, Klara, Sarah! Die sehen anders aus.
Auch Wanda und Amanda!«, schreien die Möwen.
»Und Gina, Lina, Tina! Die sehen anders aus.
Auch Anna und Johanna!«, schreien die Möwen.
»Und Inka, Minka, Tinka! Die sehen anders aus.
Die sehen alle anders aus!«, schreien die Möwen.
»Aber Emma«, sage ich, »die sieht aus, als ob …«
»Ach, Emma!«, schreien die Möwen.
»Emma …«
© Manfred Schlüter, Hillgroven (Kreis Dithmarschen, Schleswig-Holstein)
+ Das Original
Christian Morgenstern
Möwenlied
Die Möwen sehen alle aus,
als ob sie Emma hießen.
Sie tragen einen weißen Flaus
und sind mit Schrot zu schießen.
Ich schieße keine Möwe tot,
Ich laß sie lieber leben –
und füttre sie mit Roggenbrot
und rötlichen Zibeben.
O Mensch, du wirst nie nebenbei
der Möwe Flug erreichen.
Wofern du Emma heißest, sei
zufrieden, ihr zu gleichen.
+ Zum Autor Manfred Schlüter, geboren 1953, hat Tiefdruckretuscheur gelernt und Grafik-Design studiert. Seit 1978 lebt und arbeitet er in Hillgroven, einem Dorf an der Nordsee. Boy Lornsen, der väterliche Freund und Schöpfer von »Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt« hat ihm 1980 die Tür zur Bücherwelt weit aufgestoßen. In den folgenden zehn Jahren hat er Texte von Michael Ende und Boy Lornsen, von Achim Bröger und vielen anderen illustriert.Seit 1991 schreibt er seine eigenen Gedichte und Geschichten, überwiegend für Kinder, beispielsweise
»Der, Die, Das und Kunterbunt« (Thienemann 1996, Neuauflage Edition Buntehunde 2011),
»Herr Schwarz & Frau Weiß«» (Boje 2007, Neuauflage: Edition Buntehunde 2014) und
»Der kleine Herr Jemine« (Bibliothek der Provinz 2017), der 2019 auch vom Ohnsorg-Theater auf die Bühne gebracht wurde.
2020 ist »Guruku Gugukuru – Gedichte für Kinder und andere Menschen« (ebendort) erschienen, es wurde für den Josef-Guggenmos-Preis für Kinderlyrik nominiert. Aus der Begründung der Jury: »Seine Texte sind von Humor und hintergründigem Witz getragen und warten mit erstaunlichen Pointen auf, sein Ideenreichtum und seine sprachliche Gestaltungskraft scheinen unerschöpflich.« Sein letztes Buch ist 2022 in die Welt gekommen: »Und draußen ist die Welt – Bilder und Geschichten vom platten Land« (Bibliothek der Provinz). Und 2024 wird ein Band mit Gedichten für Erwachsene erscheinen: »Tanze nachts auf wilden Wellen« (ebendort).
Dann und wann verlässt Manfred Schlüter die Bücherwelt und widmet sich der freien Kunst. Er genießt es, auf unterschiedlichen Feldern unterwegs zu sein, ist auch in der Malerei und der Grafik zu Hause, fertigt Materialbilder und baut Objekte. 1983 wurde ihm der Friedrich-Hebbel-Preis zuerkannt und 2008 der Friedrich-Bödecker-Preis. 2017 wurde er mit dem Kulturpreis des Kreises Dithmarschen ausgezeichnet. Zudem erhielt er Auszeichnungen der Stiftung Buchkunst sowie der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach. Seit 2024 ist er Mitglied des PEN Deutschland.
Manfred-Schlueter.com
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.