Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
Laura Cerrato
CASI HAIKU (1–3)
1
Oímos a las cigarras pedir auxilio.
No oímos la respuesta.
Silencio salvador.
2
Otros frutos se ven
desde otros ángulos.
Versatilidad del parral.
3
¿Pétalos o alas?
No hay luz ni movimientos
que puedan perfeccionar nuestra ceguera.
Laura Cerrato
BEINAHE HAIKU
1
Wir hören die Zikaden um Hilfe rufen.
Wir hören die Antwort nicht.
Rettende Stille.
2
Andere Früchte sieht man
aus anderen Blickwinkeln.
Vielseitigkeit des Weinbergs.
3
Blütenblätter oder Flügel?
Es gibt weder Licht noch Bewegungen,
die unsere Blindheit vervollständigen können.
Übersetzt von Juana Burghardt & Tobias Burghardt
© Laura Cerrato
Im November des Jahres 2022 besuchten wir wiederholtermaßen die Dichterin Laura Cerrato in ihrem Haus in Temperley, Provinz von Buenos Aires. Wir waren ihre ersten Gäste nach den langwierigen Isolationszeiten der Pandemie. Bei unserem allerletzten Besuch kam Laura Cerrato zur endgültigen Verabschiedung trotz ihrer starken Gehschwierigkeiten an die Türschwelle, als wir bereits draußen auf das Taxi warteten, das kurz vor der Ankunft war, winkte uns noch einmal liebevoll zu und ging leicht zögerlich und leise gesammelt ins Haus hinein.
Wir lernten Laura Cerrato – an der Seite von Roberto Juarroz – vor dreißig Jahren in Buenos Aires kennen und schätzen, als wir uns im damaligen Café »Jockey Club« im Stadtkern erstmals begegneten und begannen, über neue Poesie zu sprechen. Seither befreundeten wir uns mehr und mehr, tauschten uns oftmals aus, so auch bei denkbar diffizilen Themen und anderen Kuriositäten des Literaturbetriebs. Laura Cerrato zeichnete sich durch ihren Gerechtigkeitssinn aus und nahm gewöhnlich kein Blatt vor den Mund. Ihre gerade, nüchterne, humorvoll trockene sowie stets aufrichtige Art und Weise war nicht von ungefähr very british. Wir schrieben uns regelmäßig und trafen uns in jenen drei Jahrzehnten immer mal wieder in der Literaturmetropole Buenos Aires, wenn es denn irgend möglich war. Ihre herzliche Gastfreundschaft war jedes Mal sehr beeindruckend, wenn sie uns bei sich empfing, bekochte und bewirtete.
Dann erhielten wir im Folgejahr 2023 zum Spätfrühling, dort Spätherbst, die lapidare Notiz:
Laura Cerrato. Dichterin. Sāo Paulo, 25. Februar 1941. Buenos Aires, 21. Mai 2023.
Laura Cerrato wurde 1941 in Brasilien geboren. Die Familie stammte aus dem nordwestitalienischen Piemont, wo ihre große Schwester Elda Cerrato am 14. Oktober 1930 in Asti zur Welt kam. Wegen der nächsten Arbeitsversetzung des Vaters zogen sie nach Buenos Aires weiter, wo die beiden Schwestern die Schulzeit beendeten und an die Universität gingen. Die ältere Schwester studierte zunächst Biochemie, wurde danach Malerin und Künstlerin, wirkte zwei Jahrzehnte im Exil in Venezuela, bevor sie wieder nach Buenos Aires zurückkehrte. Elda Cerrato wurde u. a. mit dem Velázquez-Preis für Bildende Kunst 2022 des Spanischen Kulturministeriums ausgezeichnet und starb zweiundneunzigjährig am 17. Februar 2023 in Buenos Aires.
Laura Cerrato studierte Philosophie und Literatur, hörte dabei die Vorlesungen von Borges über englische Dichtung, spezialisierte sich anschließend auf Anglistik, habilitierte und lehrte mehrere Jahrzehnte als Professorin an der Universität von Buenos Aires. Ende der 1950er-Jahre hatte sie den jungen Dichter Roberto Juarroz in Adrogué kennengelernt, der dort Bibliothekar am Colegio Nacional war, wo sie zur Schule ging. Sie verliebten sich ineinander und lebten erst in Adrogué, später in Temperley zusammen. Sie edierte seine ersten Bücher, die in Ediciones Equis erschienen, und war darüber hinaus am Fertigstellungsvorgang beteiligt: »Wie es seit seiner ersten Vertikalen Poesie stets war, fiel mir die Rolle der Gesprächspartnerin für seine Zweifel in der Phase der Korrektur und Schlussredaktion sowie bei der Auswahl und letzten Anordnung der Gedichte zu.« (Laura Cerrato)
Gemeinsam besuchten sie Antonio Porchia, der ihr bei jedem Treffen einen Apfel schenkte. Nach seinem Tod 1968 kümmerten sie sich beide um den verstreuten und unveröffentlichten Teil seines Werkes, das Laura Cerrato unter dem Titel »Voces abandonadas« (Verlassene Stimmen) akribisch zusammenstellte und mit ihrem begleitenden Essay versah. Irgendwann heirateten Laura Cerrato und Roberto Juarroz. Wegen manchen politischen Wirrnissen in Argentinien mussten sie zwischenzeitlich mehrfach ins Exil – nach Kolumbien, Costa Rica oder Bolivien. Beide schufen unterdessen ihre innovativen literarischen Werken weiter.
»Palabras en el espejo & Contemplación del silencio – Wörter im Spiegel & Betrachtung der Stille«
von Laura Cerrato
bei Edition Delta
Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 1991–2021 »Das Gedächtnis des Wassers«. 2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.