Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

International wurde die afrobrasilianische Dichterin, Übersetzerin und Herausgeberin Lubi Prates (*1986, São Paulo) mit ihrem gefeierten Lyrikwerk »um corpo negro« (2018, dt. »ein schwarzer körper«, 2024) weithin bekannt, in dem sie das migratorische Grundgefühl der Entwurzelung, Ausgrenzung und Hilflosigkeit als Exil bekräftigt: »denn so sehe ich den prozess des schwarze/r-werdens: kein vorher, kein nachher. er findet im hier und jetzt statt, geprägt von der gesellschaft, auch wenn ich mich ihr widersetze und gegen sie ankämpfe.« In ihm findet sich auch das folgende Gedicht:
mátria e/ou terra-mãe
repetem repetem
mátria
com tanta certeza
como se a palavra
existisse
no dicionário
o último lugar de validação.
mas não é mãe
se permite
que te arranquem
o solo e os pés
no mesmo instante
não é mãe
se inventa um navio
quando te jogam
ao mar
se força as ondas
pra que chegue
mais rápido
ao desconhecido
não é mãe
se permite que grite
até a rouquidão
mas num idioma
que ninguém compreende.
repetem repetem
mátria
com tanta certeza
como se a palavra
existisse
no dicionário
o último lugar de validação.
de onde eu vim
pra onde sempre vou
eu chamo pátria.
* * *
mutterland und/oder mutter erde
sie wiederholen, wiederholen
mutterland
mit solcher gewissheit
als ob das wort
im wörterbuch
existierte
der letzte ort der bestätigung.
aber es ist keine mutter
wenn es zulässt
dass dir der boden und die füße
im gleichen moment
weggerissen werden
es ist keine mutter
wenn es ein schiff erfindet
sobald sie dich
ins meer werfen
wenn es die wellen drängt
um schneller
ins unbekannte
zu gelangen
es ist keine mutter
wenn es erlaubt
bis zur heiserkeit zu schreien
aber in einer sprache
die niemand versteht.
sie wiederholen, wiederholen
mutterland
mit solcher gewissheit
als ob das wort
im wörterbuch
existierte
der letzte ort der anerkennung.
wo ich herkomme
wohin ich immer gehe
nenne ich vaterland.
Übersetzt von Juana und Tobias Burghardt
Ihr Gedichtband »um corpo negro« wurde ins Englische, Französische, Kroatische und Spanische übersetzt und 2020 bei Abisinia Editorial in Buenos Aires, Argentinien, gemeinsam mit Escarabajo Editorial in Bogotá, Kolumbien, und New York Poetry Press in den USA sowie im Verlag Druga priča, Zagreb, Kroatien, und bei La Voix de Sarraounia, Dompierre-sur-mer, Frankreich, veröffentlicht.
Inzwischen liegt die fünfte Auflage ihres Originalwerkes in São Paulo vor, aus dem einzelne Gedichte als Unterrichtsmaterial für die Grund- und Mittelstufe der öffentlichen Schulen in Brasilien verwendet werden. Dazu gehören folgende emblematische Texte: »para este país« (in dieses land), S. 24–27; »condição: imigrante« (status: einwanderer), S. 34–39; »pele que habito« (haut, die ich bewohne), S. 48–49.
Die bahianische Dichterin und Literaturprofessorin Lívia Natália beschrieb in ihrem Vorwort »o corpo negro como lugar da fala« (der schwarze körper als ort der sprache), wie sehr sie die »intelligente Poetik« dieses Lyrikbandes von Lubi Prates »wegen den ästhetischen und thematischen Lösungen und Provokationen« berührt hat: »Dieses Buch ist nicht leicht zu lesen, denn die Gedichte drehen sich um Schutzlosigkeit, Trümmer und Menschen, die auf dem Grund des Ozeans treiben. Im Mittelpunkt des Buches steht die Tür zum ›Nie wieder‹.«
Und sie beschreibt (nicht alleine im afrolateinamerikanischen Kontext) treffend: »Ihr Buch ist bei weitem nicht nur eine Antwort auf die gesellschaftliche Anforderung, über Rassismus in allen Bereichen nachzudenken. Dieses Buch aktualisiert die Rassismus-Diskussion durch eine feinfühlige, intensive und akribische Investition in die Wiederherstellung der Menschlichkeit auf unseren Reisen, in unserem Schmerz, in unserem Sein und Dasein in der Welt. Vor allem stellt Lubi Prates die Menschlichkeit wieder her, die allen schwarzen Körpern verweigert wird, indem sie uns aus dem Massengrab, der Gosse und dem Keller holt und auf die Beine stellt.«
Die junge afrobrasilianische Dichterin Lubi Prates engagiert sich zudem gegen die Unsichtbarkeit von Schwarzen und Frauen als Herausgeberin, Literaturkuratorin und Erzieherin sowie als Übersetzerin aus dem Englischen und Spanischen, wozu das poetische Werk der legendären Maya Angelou und der Roman »Zami: eine Biomythographie« von Audre Lorde oder Gedichte der jungen argentinischen Lyrikerin Jimena Arnolfi gehören. Derzeit erarbeitet sie ihre Doktorarbeit in Psychologie der Menschlichen Entwicklung an der Universität von São Paulo und arbeitet als klinische Psychologin in ihrem eigenen Praxis, manchmal unterbrochen von lokalen Leseterminen oder Internationalen Poesiefestivals in Lateinamerika und Asien, siehe auch Folge 78 von »Im babylonischen Süden der Lyrik«.

Lubi Prates
um corpo negro – ein schwarzer körper
Gedichte (zweisprachig: Brasilianisches Portugiesisch – Deutsch)
Edition Delta 2024
Einband in Klappenbroschur
100 Seiten
20,00 Euro [D] (22,00 Euro [A/CH])
ISBN 978-3-927648-94-4

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 1991–2021 »Das Gedächtnis des Wassers«. 2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, Indien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« und dem »Deutschen Verlagspreis 2024« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.