Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 29: »DER ABGRUND UND DIE TIEFE: ›SÉPTIMA POESÍA VERTICAL– SIEBTE VERTIKALE POESIE‹ (ROBERTO JUARROZ)«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Roberto Juarroz ist keiner nationalen oder kontinentalen Generation Lateinamerikas zuzuordnen, ebenso wenig wie sein »poeta maestro« Antonio Porchia mit den außergewöhnlichen »Stimmen« (Voces), dessen Gesamtwerk wir seit geraumer Zeit ins Deutsche übertragen und im Tropen Verlag, Köln, dann Berlin, schließlich als Imprint bei Klett-Cotta, Stuttgart, herausgegeben haben.

Roberto Juarroz als auch Antonio Porchia haben einen unverwechselbaren Stil und eine intensive poetische Haltung geprägt, die der Jüngere so charakterisiert: »Habe ich über Antonio Porchia gesprochen oder über mich? Ich glaube, dass der Abgrund und die Tiefe diese Unterscheidung nicht zulassen.« (Roberto Juarroz)
 

Sin el misterio, todo sería muy poco, tal vez nada. Y creador del misterio es el poeta, pero el poeta como Roberto Juarroz, uno de los mayores poetas de nuestro tiempo. Es difícil elogiar a quien merece más que elogios.

Para el creador nunca hay nada por hacer. Pero lo que el creador hace es la prueba de que había algo por hacer.

En estos poemas cualquier palabra podría ser la última, hasta la primera. Y sin embargo lo último sigue.
Antonio Porchia
 

Ohne das Geheimnis wäre alles sehr wenig, vielleicht nichts. Und der Dichter ist ein Schöpfer des Geheimnisses, ein Dichter jedoch wie Roberto Juarroz, einer der großen Dichter unserer Zeit. Es ist schwer, jemanden zu loben, der mehr als Lob verdient.

Für den Schöpfer gibt es niemals nichts zu tun. Aber, was der Schöpfer erschafft, beweist, dass es etwas zu tun gab.

In diesen Gedichten könnte jedes Wort das letzte sein, sogar das erste. Und dennoch geht das Letzte darüber hinaus.
Antonio Porchia

 

Jüngstens ist Band 4 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe mit seinem zweisprachigen Einzeltitel » Séptima poesía vertical – Siebte vertikale Poesie« erschienen, womit die erste großartige Hälfte seines poetischen Gesamtwerkes auf Deutsch schon vorliegt.
 

Roberto Juarroz

Séptima poesía vertical (1)

Usar la propia mano como almohada.
El cielo lo hace con sus nubes,
la tierra con sus terrones
y el árbol que cae
con su propio follaje.

Sólo así puede escucharse
la canción sin distancia,
la canción que no entra en el oído
porque está en el oído,
la única canción que no se repite.

Todo hombre necesita
una canción intraducible.
 

Roberto Juarroz

Siebte vertikale Poesie (1)

Die eigene Hand als Kissen nehmen.
Der Himmel macht das mit seinen Wolken,
die Erde mit ihren Schollen
und der Baum, der fällt,
mit seinem eigenen Laub.

Nur so kann man das Lied
ohne Entfernung hören,
das Lied, das nicht ins Ohr geht,
weil es im Ohr ist,
das einzige Lied, das sich nicht wiederholt.

Jeder Mensch braucht
ein unübersetzbares Lied.
 

Ins Deutsche übertragen von Juana & Tobias Burghardt
 

Roberto Juarroz, der argentinische Dichter und Denker, gehört bereits seit einiger Zeit zu den modernen Klassikern der lateinamerikanischen Lyrik, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 2 sowie Folge 15.

 
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Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie und zuletzt »Septembererde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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