Im babylonischen Süden der Lyrik – Folge 43: »›KATINCH’AB’EJ CHIK – VOLVERÉ A HABLARTE – ICH WERDE WIEDER MIT DIR REDEN‹ (HUMBERTO AK’ABAL) – IN MEMORIAM«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

 

BRIEF AN HUMBERTO AK’ABAL

Tausendfach erinnerter Kaqulja,

Du bist allzu vorzeitig gegangen.

Vor knapp einem Jahrsiebt teilten wir »die Erinnerungen an jene glücklichen Tage, als wir nicht an den Tod dachten, als wir uns für unsterblich hielten, indes…«

Damals hatte sich Ide Hintze allzu früh verabschiedet, ohne sich zu verabschieden. Die verdammte Uhr zeigte die Stunde an.

Du sagtest mir, die Poesie ist das einzige, was nach dem letzten Abschied bleiben wird.

Wir legen Dir Kiesel auf die Stille.

Katinch’ab’ej chik. (Ich werde wieder mit dir reden.)

Tobias et al.

 

»Ri ab'aj – Piedras« (Steine) von Humberto Ak'abal
Mit seinem Gedicht »Ri ab’aj – Piedras« (Steine) beschriebener Stein von Humberto Ak’abal (Foto Tobias Burghardt)

CARTA A HUMBERTO AK’ABAL

Mil veces recordado Kaqulja,

Te fuiste demasiado antes de tiempo.

Apenas hace un septenio que compartimos »los recuerdos de aquellos días felices, cuando no pensábamos en la muerte, cuando nos creíamos inmortales; sin embargo…«

En aquel entonces, Ide Hintze se había despedido demasiado temprano, sin despedirse. El maldito reloj marcaba la hora.

Me dijiste, la poesía es lo único que quedará después de la despedida final.

Te colocamos guijarros sobre el silencio.

Katinch’ab’ej chik. (Volveré a hablarte.)

Tobías et al.

 

Humberto Ak'abal in Malmö
Der guatemaltekische Maya-Dichter Humberto Ak’abal in Malmö (Foto Tobias Burghardt)

HUMBERTO AK’ABAL

NOMBRE NOCTURNO

Tukur, tukur, tukur…
Tecolote, tecolote, tecolote…
El pájaro canta
su nombre nocturno.

Turu’, turu’, turu’…
Desátenlo, desátenlo, desátenlo…
El pájaro habla
de un enfermo.

Muq’u, muq’u, muq’u…
Muerte, muerte, muerte…

 

NÄCHTLICHER NAME

Tukur, tukur, tukur…
Tecolote, tecolote, tecolote…
Der Vogel singt
seinen nächtlichen Namen.

Turu’, turu’, turu’…
Bindet ihn los, bindet ihn los, bindet ihn los…
Der Vogel spricht
von einem Kranken.

Muq’u, muq’u, muq’u…
Tod, Tod, Tod…


 

KLIS

Ri chikop keta’m are jampa’
ri sutz’ e yewab’ sutz’.

Keoq’ik; keb’ixonik:
klis, klis, klis, klis…

Ri sutz’ kakitzaq uloq ri jab’.

 

KLIS

Los pájaros saben cuándo
las nubes están embarazadas,

y cantan:
klis, klis, klis, klis…

Y nace el aguacero.

 

KLIS

Die Vögel wissen, wann
die Wolken schwanger sind,

und singen:
klis, klis, klis, klis…

Und der Platzregen wird geboren.


 

UWA’L KIYAQ’

Ri ojer web’al
man k’exom taj uwach.

Xqatij ri k’atan pa taq ri k’olib’al
re kach’ ulew
uwa’l kiyaq’ ruk’ kab’:
ri numam,
ri unatasib’al ri wati’t
xuquje’ in.

 

AGUA DE GUAYABA

La vieja cocina
igual que entonces.

Tomamos en batidores de barro
agua de guayaba con panela:
mi abuelo,
el recuerdo de mi abuela
y yo.

 

GUAVENWASSER

Die alte Küche,
genau wie damals.

Wir tranken in Lehmkrügen
Guavenwasser mit Zuckerrohr:
mein Großvater,
die Erinnerung an meine Großmutter
und ich.


 

CHUNAN

Iwir, xmuq ri kaminaq.
Kamik, kachunax ri ja.

We katzalijik uloq
man kuriq ta chi ri’, ri ub’e.

Ri usaqil ri chun,
chi uwech ri usaqil ri ik’,
kumoyij ri kib’oq’och ri kaminaqib’.

 

ENCALADO

Ayer, entierro del difunto.
Hoy, encalado de la casa.

Si vuelve
ya no encontrará el camino.

La blancura de la cal,
a la luz de la luna,
ciega los ojos de los muertos.

 

KALKANSTRICH

Gestern, Begräbnis des Verstorbenen.
Heute, Kalkanstrich des Hauses.

Wenn er zurückkehrt,
wird er den Weg nicht mehr finden.

Die weiße Farbe des Kalkes
im Mondlicht
blendet die Augen der Toten.


 

IXB’E’ Q’IJ RE JUNIO

Are jampa’ ri nutat xuxlanik
pa ri jun qajib’al q’ij re junio
re ri jujun taq junab’
ri naj tajan kakanaj wi

are k’u ri nunan xub’an ixoq achi.

 

TARDE DE JUNIO

Desde que mi papá descansó
aquella tarde de junio
de un año que cada vez
está más lejos

mi mamá fue los dos.

 

JUNINACHMITTAG

Seitdem mein Vater
an jenem Juninachmittag
eines Jahres, das jedes Mal
weiter weg ist, ruht,

war meine Mutter beide.


 

RI’J B’OQ’OCHAJ

Ri ab’aj
sib’alaj ri’’j ri kib’oq’och
we jun kuwilawichij
kuriq ri uno’j.

 

OJOS VIEJOS

Las piedras
tienen ojos viejos
que con sólo contemplarlos
uno descubre la sabiduría.

 

ALTE AUGEN

Die Steine
haben alte Augen.
Indem sie nur betrachtet werden,
entdeckt man die Weisheit.


 

RI CH’ANAL CHE’

Xink’am wanim
xinb’ij che ri nunan
che ri jun uche’al ri tura’s.

Ri nunan xtze’nik:
xa tajin kujal ri ratz’iyaq
xcha chuwe.

Ri uche’al ri tura’s
tajin kutzaq ri chaqi’j uxaq.

 

El ÁRBOL DESNUDO

Yo corrí a decirle
a mi mamá
que el árbol de durazno
estaba llorando.

Ella se rió:
sólo se está cambiando de ropa.

El duraznero
botaba sus hojas secas.

 

DER NACKTE BAUM

Ich lief zu meiner Mutter
und sagte ihr,
dass der Pfirsichbaum
weinte.

Sie lachte:
er wechselt nur die Kleider.

Der Pfirsichbaum
warf seine trockenen Blätter von sich.


 

JUJUN RUK’ TAQ RIKINONOCH’

Kasaqirisanik.

Ri q’ij kutij ri mayul,
kuchap ri tz’ajanem:
kutz’aj b’e,
kutz’aj che’,
kutz’aj kab’al ja,
kutz’aj awaj,
kutz’aj winaq…

Che jujun kukoj
ri unonoch’.

 

CADA UNO CON SU SOMBRA

Amanece.

El sol se come la neblina
y comienza a pintar
caminos,
árboles,
casitas,
animales,
gentes…

Y a cada uno
le pone sombra.

 

EIN JEDER MIT SEINEM SCHATTEN

Es wird hell.

Die Sonne isst den Nebel
und beginnt zu malen:
Wege,
Bäume,
kleine Häuser,
Tiere,
Leute…

Und einem jeden
gibt sie Schatten.


 

NECESIDAD

A veces es necesario
perder algo,

sólo así
uno comienza a buscar,

y sin querer
encuentra cosas que,

de no ser por lo perdido,
no las habría encontrado
nunca.

 

NOTWENDIGKEIT

Manchmal ist es nötig,
etwas zu verlieren,

nur so
beginnt man zu suchen,

und ungewollt
finden sich Dinge, die man,

wäre der Verlust nicht gewesen,
niemals
gefunden hätte.


 

500 AÑOS

No es que los indígenas
estemos viejos;
es el peso de la pobreza,
de la indiferencia,
de la injusticia,
lo que nos avejenta.

Y esto data
de un poco más allá
de 500 años.

 

500 JAHRE

Es stimmt nicht, dass wir Indios
alt seien;
es ist die Last der Armut,
der Gleichgültigkeit,
der Ungerechtigkeit,
die uns vorzeitig altern lässt.

Und dies liegt
ein wenig weiter weg
als 500 Jahre.


 

EN LENGUA K’ICHE’

En lengua k’iche’
no decimos adiós

sino katinch’ab’ej chik
(volveré a hablarte).

 

IN DER K’ICHE’-SPRACHE

In der K’iche’-Sprache
sagen wir nicht Lebewohl,

sondern katinch’ab’ej chik
(ich werde wieder mit dir reden).

 

© Humberto Ak’abal

Maya-K’iche’ und Spanische von Humberto Ak’abal
Ins Deutsche übersetzt von Juana und Tobias Burghardt

 

IN MEMORIAM HUMBERTO KAQULJA AK’ABAL
(31.10.1952, MOMOSTENANGO – 28.01.2019, GUATEMALA-STADT)

für Mayulí und Nakil

 

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https://youtu.be/epuSE-o65Ac

Zweisprachige Gedichtlesung von Humberto Ak’abal für die mexikanische Lyrikzeitschrift LA OTRA vom 1. September 2018 in Mexiko-Stadt.

 

Der Dichter, für den es in seiner Muttersprache Maya-K’iche’ kein eigenes Wort gibt – dort nennt sich die poetische Berufung »der Sänger« –, schrieb in erster Linie für sich, daher der bisweilen gewitzte Lakonismus, aber eben auch für sein Volk, daher die Vermittelbarkeit und der mythische Blick dieser unverwechselbaren Gedichte. Seine innovative Poesie verkündet zwar die Ehre, doch auch den bitteren Schmerz, in die widersprüchliche Gegenwart Mittelamerikas als Indio hineingeboren zu sein. Weitere Stichwörter dazu sind weithin bekannt: der jahrzehntelange Bürgerkrieg in Guatemala, die ein halbes Jahrtausend währende Unterdrückung der indigenen Bevölkerung mitsamt offenkundiger Nichtanerkennung ihrer Sprachen und Kulturtraditionen.

Ak’abal war nach seiner Schulzeit als Schafhirte und Teppichweber tätig. Als er von seinem Geburtsort, dem Bergdorf Momostenango in der westlichen Provinz Totonicapán, in die Metropole Guatemala-Stadt ging, verrichtete er Gelegenheitsjobs. Wie der junge andalusische Poet (und spätere Literaturnobelpreisträger von 1956) Juan Ramón Jiménez schrieb auch er anfangs Hirtenlieder und Liebesverse, eine rural gefärbte Poesie. Bei Ak’abal sticht das Lokalkolorit des indigenen Lebens auf dem Lande und am Stadtrand hervor, darunter kleine Dialogpoeme oder Tierfabeln mit Fledermäusen, Grillen, Motten, Geier, Schwarzvogel und Jaguar, in die er sich hineinverwandelt, um in ihrer Haut über den eigenen Schatten zu springen. Das geschieht mitunter ironisch und naturmagisch, wenn er etwa als Jaguar mit der Sonne spricht, mit dem Mond spielt, sich die Sterne greift und an seinen Körper heftet. In seinen onomatopoetischen Vogelstimmen-Notaten kommt die Klangfülle seiner Muttersprache zum Vorschein, wobei jeder Vogelname lautlich identisch ist mit seinem Sang oder Ruf: ein ornithologisches Paradies.

Erst 1990 – achtunddreißigjährig – konnte Humberto Ak’abal mit der Veröffentlichung seiner innovativen indigenen Poesie in Maya-K’iche’ und spanischer Sprache beginnen, für die er bald mit mehreren nationalen und internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, u.a. 1998 mit dem »Premio Continental Canto de América« der UNESCO in Mexiko-Stadt. Einen Literaturpreis verschmähte er mutig, den guatemaltekischen Nationalpreis Miguel Ángel Asturias 2003. Der spätere guatemaltekische Literatur-Nobelpreisträger Miguel Ángel Asturias schrieb 1923 seine Doktorarbeit »El problema social del indio« (Das soziale Problem des Indios), in der er die rassistischen Vorurteile seiner Zeit, die bis heute leidlich fortdauern, gegenüber der indigenen Urbevölkerung unreflektiert kolportiert hatte, von denen sich der große Maya-Dichter Ak’abal – 80 Jahre später – bewusst distanzierte.

Humberto Ak’abal gehört zur neuen Generation der indigenen Poesie, die ihren gebührenden Rang in der Weltliteratur von der ehrwürdigen Tradition eines »Popol Vuh« auf die unmittelbare Gegenwart der heutigen Lyrik verlagert hat. Die poetische und poetologische Leistung seiner Zweisprachigkeit lässt sich gerade auch im Spanischen besonders gut erkennen, das er für die tellurische Magie seiner bezaubernden Muttersprache und ihre uralte Naturphilosophie transparent machte, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 5 und Folge 6.

Der österreichische Schriftsteller und Übersetzer Erich Hackl schrieb einen bewegenden Nachruf auf Humberto Ak‘abal in deutscher Fassung für »Die Presse« (Wien) und in spanischer Fassung für »El País« (Madrid).

Der große indigene Poet Humberto Ak’abal träumte oftmals davon, dass sich eines Tages die Menschen in seinem kleinem Land Guatemala mit einem Buch bewaffneten. Im Juli 2019 wird die »XVI Internationale Buchmesse in Guatemala« (XVI Feria Internacional del Libro en Guatemala – FILGUA) eine Hommage an sein großartiges Werk und Wirken.

 

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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