Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 64: »IN ERINNERUNG AN ALBERTO SZPUNBERG – ›SÓLO EL GESTO SIEMPRE ABIERTO / DEL POEMA‹«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

In Erinnerung an den argentinisch-jüdischen Dichterfreund und Journalisten Alberto Szpunberg (28. August 1940, Buenos Aires – 13. November 2020, Barcelona): »sólo el gesto siempre abierto / del poema« (nur die immer offene Geste / des Gedichts).

 

Alberto Szpunberg Autorenfoto
Der argentinische Dichter Alberto Szpunberg am Ufer der Donau (Foto: Delta-Archiv, Stuttgart)

 

Alberto Szpunberg
SOL DE NOCHE

IV

Yo habito esta casa,
pero a la sombra del otro lado.

¿Quién llama a la puerta
si no la propia espera de mí mismo,
el crujido de las vigas,
la olorosa madera?

Lo sé, yo entreabrí una vez unos párpados
y la clara pupila, como un pequeño charco,
reflejaba un cielo inexistente.

¿Por qué ojos miro cuando no veo?

XI

Al otro lado
no hay otro lado:
aire sólo y revuelo de fresias y jazmines,
torpeza presurosa de las alas
que se encuentran sin buscarse,
libres por fin de todo destino,
a la altura de los labios,
en la proximidad del río.

XXIII

Transparencia de la voz
en la palabra
del silencio:
lo que no dice es lo que hablamos,
lo que decimos es lo que calla.

Y amanece en plena noche
la sombra que destella en nuestros ojos.

XL

Nada diré:
las manos cansadas de aferrarse,
inútiles por fin,
ya no ejercen ninguna servidumbre.
Libres,
como una multitud que desborda las calles,
sólo el gesto siempre abierto
del poema.

 

© Alberto Szpunberg

 

Alberto Szpunberg
NACHTSONNE

IV

Ich bewohne dieses Haus,
aber im Schatten der anderen Seite.

Wer klopft an die Tür,
wenn nicht das eigene Warten auf sich selbst,
das Knarren der Balken,
das duftende Holz?

Ich weiß es, einmal öffnete ich andere Augenlider,
und die helle Pupille, wie eine kleine Pfütze,
spiegelte einen nicht vorhandenen Himmel.

Durch welche Augen schaue ich, wenn ich nicht sehe?

XI

Auf der anderen Seite
gibt es keine andere Seite:
Luft nur und Flattern von Fresien und Jasmin,
hastige Unbeholfenheit der Flügel,
die sich finden, ohne sich zu suchen,
endlich frei von jedem Schicksal,
auf der Höhe der Lippen,
in der Nähe des Flusses.

XXIII

Transparenz der Stimme
im Wort
der Stille:
was es nicht sagt, ist das, was wir sprechen,
was wir sagen, ist das, was es verschweigt.

Und in der tiefen Nacht dämmert
der Schatten, der in unseren Augen aufblitzt.

XL

Nichts werde ich sagen:
die Hände, müde vom Festhalten,
endlich unnütz,
leisten keinerlei Fron mehr.
Frei,
wie eine Menge, welche die Straßen überflutet,
nur die immer offene Geste
des Gedichts.

 

Aus dem argentinischen Spanisch von Juana & Tobias Burghardt

 

In Erinnerung an Alberto Szpunberg erschienen gerade parallel weitere seiner Gedichte, zweisprachig: Spanisch-Deutsch, in der zweiten Ausgabe der neuen plurikulturellen und mehrsprachigen Literaturzeitschrift »Abisinia Review« (Buenos Aires), herausgegeben vom kolumbianischen Dichterpaar Stefhany Rojas Wagner und Fredy Yezzed, zum poetischen Werk von Alberto Szpunberg siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 27.

 

"Der Wind ist manchmal wie alle" von Alberto Szpunberg
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

 

 

 

 

 

»El viento a veces es como todos – Der Wind ist manchmal wie alle« von Alberto Szpunberg
bei Edition Delta

 

 

"Die Piatock-Akademie" von Alberto Szpunberg
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

 

 

 

»La academia de Piatock – Die Piatock-Akademie« von Alberto Szpunberg
bei Edition Delta

 

 

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018) und sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See«. 2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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