Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
Seit dem 25. August 2023 befeiert die lateinamerikanische Literaturszene den 100. Geburtstag des kolumbianischen Dichters, Erzählers und Essayisten Álvaro Mutis, u.a. mit Hommagen in Bogotá, seinem Geburtsort, und in der »Casa Marie José und Octavio Paz« in Mexiko-Stadt, wo er vor einem Jahrzehnt starb. Etliche weitere Gedenkveranstaltungen werden vielerorts folgen, auch in Spanien.
Also begleiten wir diese mit dem folgenden Gedicht, das zu einem »Klassiker« innerhalb der neuen Poesie Lateinamerikas geworden ist. Álvaro Mutis kam aus einer Dynastie von Kaffebauern, deren Urenkel, Enkel und Sohn er war. Sein Großvater baute Café auf der Finca in Tolima an, den er gewöhnlich nach Hamburg verkaufte. Kaffeefelder und strömender Tropenregen gehören zu den Kindheitserinnerungen des Dichters. Chinchin!
Álvaro Mutis
NOCTURNO
Esta noche ha vuelto la lluvia sobre los cafetales.
Sobre las hojas de plátano,
sobre las altas ramas de los cámbulos,
ha vuelto a llover esta noche un agua persistente y vastísima
que crece las acequias y comienza a henchir los ríos
que gimen con su nocturna carga de lodos vegetales.
La lluvia sobre el zinc de los tejados
canta su presencia y me aleja del sueño
hasta dejarme en un crecer de las aguas sin sosiego,
en la noche fresquísima que chorrea
por entre la bóveda de los cafetos
y escurre por el enfermo tronco de los balsos gigantes.
Ahora, de repente, en mitad de la noche
ha regresado la lluvia sobre los cafetales
y entre el vocerío vegetal de las aguas
me llega la intacta materia de otros días
salvada del ajeno trabajo de los años.
Álvaro Mutis
NACHTSTÜCK
Diese Nacht ist der Regen auf die Kaffeefelder wiedergekommen.
Auf die Bananenblätter,
auf die hohen Zweige der Berg-Immortellen
regnete diese Nacht wieder ein fortdauerndes und weitestes Wasser,
das die Bewässerungsgräben vergrößert und anfängt, die Flussläufe aufzufüllen,
die mit ihrer nächtlichen Fracht aus Pflanzenlehm ächzen.
Der Regen auf den Zinkdächern
besingt seine Anwesenheit und entfernt mich dem Schlaf,
bis er mich mit einer Flut ruhloser Gewässer zurücklässt –
in der kühlen Nacht, die tröpfelt
durch das Gewölbe der Kaffeeverzweigungen
und am kranken Stamm der riesigen Balsabäume absickert.
Jetzt, plötzlich, inmitten der Nacht
ist der Regen auf die Kaffeefelder zurückgekehrt,
und durch das pflanzliche Stimmengewirr der Fließgewässer
erreicht mich die Unberührtheit der Dinge aus anderen Tagen,
hinübergerettet von der fremden Arbeit der Jahre.
Übertragen von Juana Burghardt & Tobias Burghardt
© Álvaro Mutis
Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 1991–2021 »Das Gedächtnis des Wassers«. 2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.
Tejas de caserones, límites infalibles, algún día caerán.