Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 93: »›NAZCA-LÍNEAS – NAZCA-LINIEN‹ VON RENATO SANDOVAL BACIGALUPO (PERU)«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Nazca birgt in sich eine kultische Landschaft mit uralten andinen Sternenbildern auf dem Kontinent Abya Yala, wie dieser – der 1507 vom deutschen Kartographen Martin Waldseemüller (ca. 1470 – 1520), auch Waltzemüller oder Martinus Ilacomilus bzw. Hylacomylus, nach dem Florentiner Kaufmann, Seefahrer, Navigator und Erforscher Amerigo Vespucci oder Américo Vespucio (1454 – 1512) so benannte »amerikanische« Doppelkontinent – indes von den indigenen Ureinwohnervölkern zur kontinentalen Selbstbezeichnung genannt wird, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 86.

Neuerdings werden in der rätselhaften Wüste von Nazca weitere Linien und Figuren erschlossen. Warum ist das jetzt so?

Kurz gesagt: Die Freilegung etlicher längst ungesehener Geoglyphen geschieht gegenwärtig dank neuer Technologien wie friedlicher Drohnen, globaler Navigationssatellitensysteme zur Positionsbestimmung (NAVSTAR GPS), archäologischer Lasertechnik und Computersimulationen.

Dabei hat sich in erster Linie ein japanisches Forscherteam von der Universität Yamagata in der nordöstlichen Region Tōhoku des ostasiatischen Insellandes hervorgetan, das zusätzliche 168 Nazca-Wüstenzeichnungen wieder zum Vorschein brachte, darunter eine fast zehn Meter längliche Katze, eine annähernd 8 Meter hohe und etwa 4 Meter breite Menschenfigur, einen mit 30 Metern Höhe und Breite immensen Kleinvogel und eine auf etwas mehr als 7 Meter ausgestrecke Schlange.

So weit, so gut.

Manchmal ist das Geheimnis von Nazca geradezu eine poetische Inspirationsquelle, so auch für den peruanischen Dichter und Übersetzer Renato Sandoval Bacigalupo, der mit dem »Nationalpreis für Literatur 2019« in Lima ausgezeichnet wurde und dessen Gedichte u.a. ins Dänische, Englische, Finnische, Französische, Italienische und Portugiesische übertragen worden sind. Das Nazca-Tiermotiv »Fisch« hallt in seinem Gedicht wider.

 

 

Renato Sandoval Bacigalupo

NAZCA-LÍNEAS

Tracé con mi frente un círculo
que a la deriva va
en el desierto de luces y de ritmos
perfecta nave rodando al tiempo
mágico fragor con paso oscurecido:
orfandad del huerto
Y me dije ya no es nada
solo garra que rasguña
el parvo pecho
aullido de cigarra en la llanura
lúbrico estertor del pensamiento
Y pude al fin
empinarme con las manos
y ver al círculo tensarse
y hender de pronto su figura
vi un pez orando en la explanada
sobre un libro de amor entre las dunas

 

 

Renato Sandoval Bacigalupo

NAZCA-LINIEN

Ich zeichnete mit meiner Stirn einen Kreis
der driftend verläuft
in der Wüste der Lichter und Rhythmen
vollkommenes Schiff, rollend in die Zeit
magisches Getöse mit verdunkeltem Gang:
Waisentum des Gemüsegartens
Und ich sagte mir, es ist nichts weiter
nur eine kratzende Kralle
an der schmalen Brust
Zikadenheulen im Flachland
öliges Röcheln der Gedanken
Und ich konnte mich endlich
mit den Händen emporheben
und sehen, wie sich der Kreis spannt
und seine Gestalt plötzlich spaltet
ich sah einen betenden Fisch auf der Ebene
über einem Buch der Liebe zwischen den Dünen

 

 
Übertragen von Juana Burghardt & Tobias Burghardt

© Renato Sandoval Bacigalupo

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

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