Jubiläumsblog. Ein Vierteljahrhundert DAS GEDICHT
Folge 11: Felizitas Leitner – Der Mensch hinter der Medizinerin

Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.

Dr. med. Felizitas Leitner wurde 1957 in Aachen geboren. Sie arbeitet seit fast 35 Jahren als Ärztin. Seit 1993 praktiziert sie als nieder­gelassene Allgemein­medizinerin in Weßling (Land­kreis Starnberg). Sie ist Lehr­beauftragte der Tech­nischen Uni­versität München und war Mitbegründerin und Geschäfts­führerin der »help! Bereitschaftspraxis Fünfseenland«. Von 2010 bis 2011 war sie regionale Vorstands­beauftragte für Oberbayern der Kassen­ärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB). Von 2011 bis 2015 war sie stell­vertretende Vorsitzende der Landes­gruppe Bayern des NAV-Virchow-Bundes, Verband der nieder­gelassenen Ärzte Deutschlands e. V. Sie ist Mitglied des Weßlinger Gemeinderates und Referentin für die Kinder­betreuungs­einrichtungen des Ortes. 2004 erschien ihr Buch »Die Venus streikt. Gesund durch die Kraft der Poesie« (Daedalus Verlag, Münster), das bereits in der 6. Auflage vorliegt. Seit 2008 moderiert sie den Poesie­wettbewerb um den »Lyrikstier«.

Dr. med. Felizitas Leitner ist neben ihrem Beruf als Allgemeinmedizinerin maßgeblich in die Geschehnisse rund um DAS GEDICHT involviert. Mit Franziska Röchter sprach sie über Verantwortung innerhalb von Unternehmen, die Zunahme von Erkrankungen durch verdichtete Arbeitsprozesse, falsche Eitelkeiten und ihr gesellschaftliches Engagement.

Ich fühle mich immer wieder reich beschenkt, wenn die Poesie mich aus dem Alltag entführt.

Liebe Felizitas, in diesem Jahr findet für deinen Mann Anton G. Leitner ja quasi eine doppelte Silberhochzeit statt, zum einen habt ihr beide im Frühjahr tatsächlich Silberhochzeit gefeiert, zum anderen feiert DAS GEDICHT im Oktober 25-jähriges Jubiläum. Männer sind ja angeblich nicht selten an erster Stelle mit ihrem Beruf verheiratet. Bei euch hat man aber den Eindruck, alles hält sich prima die Waage. Dennoch: Wie ist es, lebenslang und rund um die Uhr die Leidenschaft des Liebsten mit der immerwährenden Berufung Poesie zu teilen?

Die Leidenschaft für die Poesie führt als wichtigste Auswirkung dazu, dass wir als Paar die Verantwortung für zwei Betriebe in zwei unterschiedlichen Branchen übernommen haben. Diese nicht einfache Bürde führt zu hohem Arbeitsaufwand und erheblichen finanziellen Risiken. Allerdings fühle ich mich immer wieder reich beschenkt, wenn die Poesie mich – z. B. bei Lesungen – aus diesem Alltag entführt, mich träumen lässt und mich mit wunderbaren Menschen zusammenbringt.

Stimmt es wirklich, dass die Poesie seinerzeit bei euch quasi als Brandbeschleuniger fungiert hat? Oder gar als Initialzündung?

Es war zwar die Literatur, aber nicht die Poesie, sondern die Prosa. Ich besuchte auf der Burg Rothenfels am Main ein Wochenendseminar zum Thema »Eros in der Gegenwartsliteratur – Trauma oder Traum«. Anton stellte dort seine noch in Entstehung befindliche Erzählung »Still Leben ohne Dichter« vor, die später im Kowalke & Co. Verlag, Berlin, erschien. Nach mehreren Monaten trafen wir uns dann mehr zufällig in München wieder – und das war dann die Initialzündung.

Kann es schon mal passieren, dass eine derartige berufliche Leidenschaft, vielleicht sogar Besessenheit des Ehepartners zur Geduld- und Zerreißprobe werden kann? Etwa wenn der eine bereits draußen im Auto wartet, weil man einen gemeinsamen Termin hat, aber man einfach nicht vom Bildschirm wegkommt …

Ja, das gibt es auf beiden Seiten: Ich habe vermutlich zusammengerechnet schon viele Monate meines Lebens im Auto sitzend auf Anton gewartet. Anton hingegen wartet oft sehr lange auf das Sprechstunden-Ende, das sich immer weiter hinauszieht, wenn er mit mir am Abend noch um den Weßlinger See spazieren gehen oder schwimmen möchte. Manchmal geht er dann auch allein.

Collage Felizitas Leitner mit Bilder aus dem privaten Archiv und von Boerboom + Vogt. Gestaltung: Franziska Röchter
Collage Felizitas Leitner mit Bilder aus dem privaten Archiv und von Boerboom + Vogt. Gestaltung: Franziska Röchter

In vielen Dingen, könnte ich mir vorstellen, stärkst du deinem Mann den Rücken. Hinter jedem großen Mann steht eben nicht selten eine mindestens genauso große Frau. Ist das auch andersherum bei euch? Schließlich hast du neben deiner Arztpraxis auch noch einen Posten im Gemeinderat, der dich zusätzlich auf Trab hält?

Durchaus. Anton kümmert sich um viele Dinge im Haushalt und in unseren beiden Betrieben. Vor allem, wenn es um die Organisation von Handwerkern geht, kann ich mich zu 100 Prozent auf ihn verlassen. Aber auch, wenn wichtige Entscheidungen in unseren Betrieben getroffen werden müssen: Anton bildet sich schnell sehr dezidierte Meinungen, auch ungewöhnliche. Und meistens hat er hier recht.

Du selbst als Medizinerin hast ja ein wundervolles Buch zum Thema »Heilkraft der Poesie« geschrieben: »Die Venus streikt: Gesund durch die Kraft der Poesie«. Hast du jemals in den vergangenen 25 Jahren gedacht: Wenn es doch auch mal ein Heilmittel gäbe, um sich wenigstens für ein paar Stunden von der Poesie zu lösen?

Ehrlich gesagt, das gab es noch nie. Was ich mir gelegentlich wünsche, ist etwas mehr Zeit für mich allein. Wir haben ja beide permanent mit Menschen zu tun. Das macht sehr viel Freude. Aber manchmal ist Alleinsein einfach auch schön.

Welches ist dein schönstes Erlebnis im Zusammenhang mit der Geschichte von DAS GEDICHT?

Es gab sehr viele sehr schöne Erlebnisse: die Präsentationen der Zeitschrift DAS GEDICHT im Münchner Literaturhaus, die Veranstaltungen um den Wettbewerb »Der Lyrikstier« in Hochstadt, auch so manche Lesung an den unterschiedlichsten Orten in Deutschland oder im Ausland. Am schönsten aber fand ich unseren gemeinsamen Dreh des YouTube-Films »Dichter an die Freude« anlässlich von Antons 50. Geburtstag.

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://www.youtube.com/watch?v=6srAvZDjkKE

 

Gibt es auch ein eher unangenehmes Erlebnis?

Unangenehm sind immer wieder manche Menschen, deren Gedichte leider nicht abgedruckt, nicht vorgetragen, nicht prämiert werden können. Es gibt immer wieder welche, die dann persönlich gekränkt oder aggressiv reagieren, gar die Freundschaft kündigen. Es sollte doch um die Lyrik als Ganzes gehen und nicht um persönliche Eitelkeiten – sollte man meinen.

Kurz zu deiner eigenen Berufung, Menschen zu heilen: Man liest viele Statistiken zu Krankheiten, die heutzutage häufiger vorkommen oder eben seltener werden. Wie sieht es in deinem persönlichen Berufsalltag aus: Welche Krankheiten nehmen nach deiner Beobachtung zu?

Ganz klar nehmen Krankheiten zu, die durch die Arbeitsbedingungen entstehen. Wenn Mitarbeiter sich beim Toilettengang ›ausstempeln‹ müssen, damit diese Zeiten nicht als Arbeitszeiten verbucht werden, wenn eine qualitativ hochwertige Ausführung der Arbeit weniger zählt als die Geschwindigkeit, mit der sie erledigt wird, wenn Menschen am Arbeitsplatz ausgegrenzt werden, wenn die Arbeit immer mehr verdichtet wird: Das macht viele nachhaltig krank.

Eine sorgfältige Anamnese, ein patientenbezogenes Gespräch ist die Basis jeder ärztlichen Behandlung.

Du stellst den Menschen in den Mittelpunkt deines therapeutischen Wirkens, das bedeutet, dein Ansatz ist ganzheitlich, so wie sicher die Grundlage aller heilkundlichen Bestrebungen aussehen sollte – wenn die Medizin nicht gleichzeitig ökonomischen Kriterien unterworfen wäre. Ist dieser Ansatz nicht viel zeitaufwendiger sein als routinemäßig die Apparatemedizin zum Einsatz zu bringen?

Wenn ich mir nicht die Zeit nehme, mit einem Patienten gemeinsam den Zusammenhang zwischen seinem Liebeskummer und seinen Herzbeschwerden aufzudecken, dann geht er verzweifelt von Arzt zu Arzt, von Kardiologe zu Kardiologe. Jede neue Untersuchung führt zu immer neuen – meist banalen – Befunden, die dann immer noch weiter abgeklärt werden müssen. Unter dem Strich ist der Zeitaufwand, sind die Kosten dann viel höher, und zwar ohne dem Patienten zu helfen. Eine sorgfältige Anamnese, ein patientenbezogenes Gespräch ist auch im 21. Jahrhundert die Basis jeder ärztlichen Behandlung. Das zeigen übrigens auch alle seriösen Untersuchungen zu diesem Thema.

Seit etlichen Jahren bist du Lehrbeauftragte für Allgemeinmedizin an der Technischen Universität München und Moderatorin für die Weiterbildung von Ärzten. Wie viel Zeit nehmen solche Aufgaben pro Woche ein?

Die Verpflichtung besteht für zwei Stunden pro Woche. Allerdings würde das wegen der Fahrzeit sehr zeitaufwändig sein. Deswegen habe ich mich vor allem auf die Durchführung von Seminaren und Examenscoachings spezialisiert, die mehrmals im Semester stattfinden und dann aber über mehrere Stunden gehen. Auch prüfe ich im Staatsexamen. Diese Tätigkeit weitet meinen Blick von der Alltagsarbeit in der Praxis über den Tellerrand und macht mir sehr viel Freude.

Kommunikation habe ich schon immer für einen Schlüssel zu guter und menschlicher Medizin gehalten

So ganz nebenbei engagierst du dich auch noch in der Flüchtlingshilfe?

Vor zwei Jahren wurden in unserem Dorf 260 Geflüchtete in der Turnhalle und im leerstehenden Feuerwehrhaus untergebracht. An einem heißen Augustnachmittag standen dann plötzlich 20 fremd aussehende, ungewöhnlich gekleidete Menschen in meiner kleinen Praxis: Männer, Frauen und Kinder. Sie kamen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, Albanien und Eritrea. Nur eine albanische Frau sprach passabel englisch, deutsch konnte niemand, kein einziges Wort. Mein Team und ich standen vor der Aufgabe, diese Menschen zumindest einigermaßen medizinisch zu versorgen. Es klappte besser als gedacht; wir benutzten Bildwörterbücher und Online-Übersetzer. Wir arbeiteten in der Folge sehr eng mit unseren wunderbaren ehrenamtlichen Helfern und Dolmetschern zusammen und pflegten enge Kontakte zum Landratsamt, um die medizinische Versorgung unserer Neubürger zu verbessern. Kommunikation habe ich schon immer für einen Schlüssel zu guter und menschlicher Medizin gehalten; bei diesen neuen Patienten stellten sich diesbezüglich neue Herausforderungen. Ich habe viel über interkulturelle Kommunikation gelesen; leider gibt es noch kaum Fortbildungen zu diesem wichtigen Thema.

Inzwischen leben viele dieser Menschen in einer Containersiedlung am Ort und sind Weßlinger Bürger geworden. Viele arbeiten inzwischen, machen eine Ausbildung oder lernen noch intensiv deutsch. Ihre medizinische Behandlung gleicht immer mehr der von allen anderen Patienten. Nur die oft traumatischen Erlebnisse aus der Vergangenheit haben bei vielen von ihnen Spuren hinterlassen.

Welchen Tipp würdest du ganz generell Menschen geben, damit sie ihr Wohlbefinden verbessern können, sich rundum gut, gesund, glücklich fühlen? Und was würdest du speziell Dichtern raten, die womöglich auch zu viel sitzen und nicht immer die gesündeste Lebensweise pflegen?

Regelmäßige Bewegung sowie abwechslungsreiche, mediterrane Kost sind nachweislich wichtig. Kein Nikotin, wenig Alkohol. Das Wichtigste aber scheint mir, mit sich selbst im Reinen zu sein. Weg vom Selbstoptimierungszwang, sich selbst anzunehmen, wie man ist. Und eine Aufgabe zu haben, für die es sich lohnt, sich einzusetzen. Die Augen offen zu halten für andere. Mehr braucht es nicht.

Was liest du neben deinen beruflichen und politischen Verpflichtungen, oder mal ehrlich: Bleibt da noch viel Zeit zum Lesen schöngeistiger Bücher?

Du hast Recht: fürs Lesen bleibt leider immer zu wenig Zeit. Ich versuche, wenigstens abends im Bett noch ein Gedicht zu lesen. Aber manchmal packt mich auch ein Roman oder ein Sachbuch zu einem spannenden Thema so, dass ich mir Zeiten zum Lesen irgendwie ›herausschneide‹. Gerade habe ich »Eine überflüssige Frau« von Rabih Alameddine beendet und mit »Gott ist nicht schüchtern« von Olga Grjasnowa begonnen, beides Bücher über das Leben im Nahen Osten zu Zeiten des Krieges. Freuen tue ich mich schon auf »Syrien verstehen« von Gerhard Schweizer, das mir meine syrischen Freunde Kima und Adnan geschenkt haben.

Liebe Felizitas, bist du jemals dazu inspiriert worden, vielleicht auch einmal selbst ein Gedicht (oder mehrere) zu schreiben?

Als Studentin habe ich mal ein kurzes Gedicht verfasst. Grottenschlecht. Neben einem Ehemann Anton G. Leitner im fortgeschrittenen Alter damit anzufangen, Gedichte zu schreiben, könnte wohl nur lächerlich ausfallen. Aber, ganz ehrlich: mich hat das Lesen immer schon mehr gereizt als das Schreiben.

Was würdest du dem GEDICHT und natürlich allem voran deinem Mann für sein Lebensprojekt wünschen?

Ich würde Anton von Herzen einen Brian Epstein wünschen. Einen Mann, der einen Mantel des Rückzugs und der finanziellen Sicherheit über die Beatles breitete, so dass sie sich ausschließlich und ohne jegliche Geldsorgen ihrer Musik widmen konnten. Anton hätte einen Brian Epstein verdient.

Liebe Felizitas, herzlichen Dank für das wundervolle Gespräch!
 

Felizitas Leitner
Die Venus streikt. Gesund durch die Kraft der Poesie
 

Daedalus Verlag, Münster 2004
160 Seiten, Paperback
ISBN 978-3-89126-149-1

 

Franziska Röchter. Foto: Volker Derlath

Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.


Die »Internationale Jubiläumslesung mit 60 Poetinnen und Poeten« zur Premiere des 25. Jahrgangs von DAS GEDICHT (»Religion im Gedicht«) ist eine Veranstaltung von Anton G. Leitner Verlag | DAS GEDICHT in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Mit Unterstützung der Stiftung Literaturhaus. Medienpartner: Bayern 2.

DAS GEDICHT Logo

 

Literaturhaus München


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert