Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.
Uwe-Michael Gutzschhahn ist Mitglied des Verbandes deutscher Schriftsteller und des PEN-Zentrums Deutschland.
Uwe-Michael Gutzschhahn ist Spezialist auf dem Gebiet der Kinderlyrik. Er sprach mit Franziska Röchter über seinen persönlichen Werdegang, das Staunen in lebendigen Gedichten und darüber, was Schulkindern die Lust auf Lyrik nimmt.
In mir ist vielleicht noch viel von einem Kind vorhanden.
Lieber Uwe-Michael Gutzschhahn, können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie zum allerersten Mal mit Lyrik im weiteren Sinne in Berührung gekommen sind und um welche Verse es sich handelte?
Na ja, welches Gedicht, welcher Abzählreim der erste war, weiß ich nicht. Aber in Erinnerung war mir immer »Hoppe, hoppe, Reiter«, weshalb ich mit Freuden Arne Rautenbergs neue Version in meine Nonsens-Anthologie »Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her« (cbj Verlag, München 2015) aufgenommen habe. Als meine Mutter noch lebte, erzählte sie, dass ich als Dreijähriger mit Freuden Abzählreime umgedichtet hätte. Leider ist von diesem Frühwerk nichts erhalten geblieben.
Haben Sie noch Erinnerung an Ihre Schulzeit und welche Rolle Verse oder Gedichte im Unterricht spielten?
Ich war in keinem Kindergarten und habe Gedichte schulisch erst wirklich im Grundschulalter kennengelernt – damals vor allem Balladen: »John Maynard«, »Herr von Ribbeck« und so weiter. Aber es waren nicht viele Gedichte. Und keine Kindergedichte.
Und später, an der weiterführenden Schule? Ist Ihnen etwas in Erinnerung geblieben, das Ihr Interesse an Kindergedichten oder Ihr Faible für selbige beeinflusst hat?
Ich erinnere mich an die erste Begegnung mit den Gedichten des Expressionisten Alfred Lichtenstein. Das war eine große Entdeckung für mich – diese lakonischen Bilder, völlig schräg zueinander gesetzt. Ansonsten habe ich auf dem Gymnasium gelernt, was Gedichte sind, dass es um Bilder und Sprache geht, dass man mit Sprache neue, befremdende Bilder evozieren kann. Und die Begegnung mit Christoph Meckel tat ein Übriges. So begann ich, selber zu schreiben. Aber die Rückbesinnung aufs Kindergedicht kam erst einige Jahrzehnte später.
Sobald ein Gedicht öffentlich wird, löst es sich von seinem Verfasser und öffnet sich zu viel mehr, als der Autor gedacht hat.
Was passiert, wenn wir in der Erziehung unserer Kinder immer großen Wert auf das Sinnfällige, das ›Vernünftige‹ legen?
Ach, das Sinnfällige, das Vernünftige ist, wenn es um Literatur, um Gedichte geht, ein Widerspruch in sich. Ich glaube bis heute nicht daran, dass es wichtig ist, eine germanistisch korrekte Interpretation eines Trakl-Gedichts abzuliefern. Wichtiger ist mir die Frage, wo finde ich mich in dem Gedicht, einer Zeile, einem Bild wieder? Was empfinde ich subjektiv, wenn ich eine Zeile aus einem Gedicht lese, die mich festhält? Was löst diese Zeile in mir aus? Warum fasziniert mich, was ich so nie gedacht, nie gesagt hätte? Sobald ein Gedicht öffentlich wird, löst es sich von seinem Verfasser und öffnet sich zu viel mehr, als der Autor gedacht hat. Da beginnt das Gedicht plötzlich, eigenständig zu leben. Das ist der Unterschied zur Wissenschaft, die kategorisch denkt.
Gedichte müssen leben, egal in welcher Form.
Was genau vergällt Heranwachsenden und Schülern den Spaß an Gedichten, warum verdrehen viele Jugendliche die Augen und rümpfen die Nase, wenn sie das Wort ›Lyrik‹ nur hören?
Es ist ja nicht so, dass alle Schüler Gedichte schrecklich finden. Es gibt sogar junge Leute, denen es Spaß macht, Gedichte zu interpretieren. Ich behaupte nicht, dass mir das keinen Spaß gemacht hat. Ich habe Gedichte auch gerne auswendig gelernt und finde es schrecklich, dass ich mir heute nicht mal meine eigenen Texte gescheit merken kann. Der Schrecken der Schule besteht nur darin, dass meist der Interpretationsspielraum so eng gefasst wird, dass man als Schüler den Eindruck gewinnt: Das Gedicht geht mich nichts an. Wenn ich ein Gedicht abstrahiere, spricht es auf einmal eine theoretische Sprache. Aber Jugendliche finden spoken poetry – also Hiphop oder Slam-Gedichte – durchaus spannend und reizvoll. Gedichte müssen leben, egal in welcher Form.
Eine Deutschlehrerin erzählte der Klasse meines Sohnes in der Mittelstufe, dass jemand, der ein Gedicht schreibt, jeden Schritt und jedes Stilmittel von Anfang bis Ende akribisch ›plant‹. Mein Sohn kam empört nach Hause und beschwerte sich über die Lehrerin und darüber, dass Schülern so viel Unsinn beigebracht würde. Wie hätten Sie reagiert?
Ich gratuliere Ihrem klugen Sohn von Herzen. Ich glaube nicht, dass ein Gedicht durch und durch geplant sein kann. Ein Gedicht ist Musik, ist Sprachmelodie. Die erste Zeile, das erste Bild ergibt seinen Ton, seinen Verlauf. Ich kann ein Thema planen, aber Gedichte, die wegen eines Themas geschrieben sind, sind oft heikel. Nicht jeder Dichter ist ein Bertolt Brecht. Ein Gedicht ist im besten Fall eine Mischung aus poetischer Assoziation und poetischem Plan. Viele Gedichte folgen aber mehrheitlich der musikalischen Sprachassoziation und stellen den Plan hintan. Auch der beste Plan braucht die gedankliche und bildhafte Assoziation.
Gedichte sind Erlebnisräume.
Wäre es mal an der Zeit, einige Lehrpläne an Schulen zu ändern?
Das Wichtigste wäre – und das gilt ja nicht nur für Gedichte im Unterricht –, Lust und Freude am Objekt zu wecken, Schüler offen experimentieren zu lassen, ihnen Raum zu geben, das zu äußern, was sie denken und empfinden, nicht zu zeigen, dass alles längst klug und einzig richtig vorgekaut ist. Gedichte sind Erlebnisräume, Gedichte wollen (laut) gesprochen werden. In Gedichten und ihrer Sprache, ihren Bildern entstehen Fantasie und die Fähigkeit, Dinge zu denken, sich Vorstellungen zu machen, wie eine Welt aussehen könnte, die es so nicht gibt. Dazu ist poetische Sprache da. Und dazu muss sich jeder Leser seine eigenen Gedanken machen und Raum haben, diese zu artikulieren.
Sie waren viele Jahre als programmverantwortlicher Lektor in verschiedenen Verlagen tätig, bevor Sie als Autor, Übersetzer, Lektor und Herausgeber in die Selbständigkeit wechselten. Was war ausschlaggebend für diesen Schritt?
Je mehr es im Verlag um Geschäft ging, je mehr jedes Manuskript auf seine Verkäuflichkeit abgeklopft wurde, je weniger Zeit im Verlag gegeben wurde, einen Autor aufzubauen, ihm Zeit für das Experimentieren und für seine literarische Entwicklung zu lassen, desto uninteressanter wurde die Arbeit. Weil ich mich mit meiner Verlagsarbeit aber kenntlich gemacht hatte, habe ich bis heute das Glück, als Übersetzer jene Bücher zum Übertragen zu bekommen, die mich literarisch neugierig machen. Ich denke oft, aus dem, was ich Jahr für Jahr übersetze oder herausgebe, hätte ich gern ein literarisches Verlagsprogramm gemacht (auch wenn sich manche Titel darunter für einen guten Controller als Horror erweisen würden). Es wäre ein exquisites, literarisch offenes und vielseitiges Programm.
Es geht immer stärker um eine Art Normgeschmack.
Nach welchen Kriterien werden Kinderbücher für ein größeres Verlagsprogramm ausgewählt? Gibt es bei der Programmplanung beispielsweise eine pädagogische Qualitätskontrolle?
Der pädagogische Gedanke ist zum Glück in den Verlagen weitgehend zurückgedrängt, auch wenn inzwischen von Käuferseite – also Elternseite – bewusst wieder nach dem Mehrwert eines Buches gefragt wird. Was kann mein Kind aus dem Buch lernen? Ist das politically correct, wenn ein Vater die Freundin seiner Tochter, die hingefallen ist, tröstend in den Arm nimmt? Es gibt heute mehr Puritanismus als vor zehn oder fünfzehn Jahren. Aber das ist nicht das größte Problem in der Kinder- und Jugendliteratur. Viel wichtiger: Es geht immer stärker um eine Art Normgeschmack und das hat zur Folge, dass die 1.000 oder 1.500 Intensivleser mehr und mehr aus dem Blickfeld rücken – Leute, die nicht das Mainstream-Buch brauchen, sondern eine eigenwillige, eigenständige literarische Geschichte, einen klugen, anrührenden Roman, einen die Fantasie anregenden, sprachspielerischen Gedichtband.
In Gedichten lernt man das Staunen über das, was man so nicht gedacht, gesagt, gesehen hätte.
Sie sagten einmal, dass man Kinder mit dem Staunen, das Gedichte auslösen können, erreichen kann. Erzeugen Sie dieses Staunen auch mithilfe von Neologismen?
Für ein Kind ist jedes Wort am Anfang ein Neologismus, ein Geheimnis, eine kleine zu entschlüsselnde Welt. Dieses Entdecken von Sprache, ganzen Sprachräumen, ist wichtig. Wer es als Kind nicht spürt, wird es als Erwachsener nie begreifen und Wörter als definierte, invariable Nennwerte verstehen. So kann man Twitter-Nachrichten schreiben. Aber in Gedichten lernt man das Staunen über das, was man so nicht gedacht, gesagt, gesehen hätte. Eine neue Weltsicht entsteht in den Wörtern, den Bildern, dem Klang der Sprache. Ohne Sprache könnten wir uns eine andere Welt nicht ausmalen. Jede Utopie wäre hinfällig ohne Sprache. Deshalb halte ich es für wichtig, Kinder (und Erwachsene) mithilfe der Sprache das Staunen zu lehren.
Uwe-Michael Gutzschhahn liest Uwe-Michael Gutzschhahn: »Besuch«
Uwe-Michael Gutzschhahn liest Uwe-Michael Gutzschhahn: »Tausend Dinge«
Hörproben aus: Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her: Das dicke Buch vom Nonsens-Reim, von Uwe-Michael Gutzschhahn und Sabine Wilharm, cbj 2015, mit freundlicher Genehmigung von randomhouse.de / A. Wolf
Sie erhielten 2006 und 2009 den Deutschen Jugendliteraturpreis für Ihre Übersetzungen von Kevin Brooks. Was zeichnet diesen Schriftsteller besonders aus?
Kevin Brooks ist in seinen Geschichten dicht an der Zeit, das spricht junge Leser an. Aber was noch wichtiger ist: Immer wieder geht es in seinen Büchern um die moralische Frage: Was macht einen Menschen zum Menschen? Brooks verurteilt nicht, sondern stellt infrage – und dies in spannenden, emotional aufgeladenen Geschichten und mit eindringlichen Bildern.
Im Rahmen der Oldenburger Poetikvorlesungen 2016 referierten Sie über die »Musik der Sprache« und sprachen dabei über die Suche nach dem »geeigneten Ton des Textes« auch bei der Übersetzung. Welche Musik hören Sie privat am liebsten?
Das ist ein weites Feld. Ich liebe klassische Musik, aber ich liebe genauso alles, was seine Wurzeln in der Bluesmusik hat. Ich liebe lange Gitarrensoli wie bei Joe Bonamassa und gute, große Stimmen wie von Beth Hart.
Ich vermute, dass jemand, der sich selbst so intensiv mit Literatur für Kinder beschäftigt, selber auch Kinder hat?
Das ist in der Tat ein Irrtum. Auch Kindertexte sind zunächst Literatur. Und ich muss mich in Kinder eindenken können, wie ich es sonst vielleicht in eine junge Frau, einen alten Mann, einen Serienmörder tun müsste. In mir ist vielleicht noch viel von einem Kind vorhanden, was es mir leicht macht, kindhaft zu denken.
Welche fünf Lyrikbände für Kinder sollten bei jeder Familie zu Hause im Regal stehen?
- Robert Gernhardt: »Ein gutes Buch ist nie verschenkt«
- Franz Hohler: »Es war einmal ein Igel«
- Arne Rautenberg: »montag ist mützenfalschrumtag«
- Hans Joachim Gelberg (Hrsg.): »Großer Ozean«
- Uwe-Michael Gutzschhahn (Hrsg.): »Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her«
Lieber Uwe-Michael Gutzschhahn, herzlichen Dank für dieses offene Gespräch!
Uwe-Michael Gutzschhahn (Hrsg.)
Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her
Das dicke Buch vom Nonsens-Reim
Mit Illustrationen von Sabine Wilharm
cbj Verlag, München 2015
192 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3-570-15971-2
Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.