Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.
Seit 2003 ist er Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
Ludwig Steinherr hob 1992 zusammen mit Anton G. Leitner die Jahresschrift DAS GEDICHT aus der Taufe. Franziska Röchter sprach mit ihm über seinen aktuellen Gedichtband »Alpenüberquerung«, seine Haltung zu Religion und Glauben sowie sein politisches Engagement.
Mir fehlen ständig die Worte.
Lieber Ludwig Steinherr, als zweites Gründungsmitglied und Mitherausgeber haben Sie die erste Ausgabe von DAS GEDICHT 1992 mit aus der Taufe gehoben. Hätten Sie damals gedacht, dass Sie die ›Silberhochzeit‹ miterleben würden?
Offen gestanden: Ich konnte mir damals weder von der Zeitschrift noch von mir selbst vorstellen, dass wir je so alt werden würden …
Wenn Sie die verschiedenen Themenschwerpunkte betrachten, die sich Anton G. Leitner jedes Jahr einfallen lässt: Fällt Ihnen spontan ein Thema ein, welches überhaupt noch nicht berücksichtigt wurde?
Spontan nicht. Oder Moment – gibt es einen Band über das Meer?
Sie promovierten an einer jesuitischen Hochschule im Fach Philosophie und in einigen Ihrer Gedichte klingt ein religiöser oder spiritueller Grundton durch. Welche philosophischen oder religiösen Fragestellungen drängen sich Ihnen immer wieder auf?
Die großen Fragen, um derentwegen man ja Philosophie studiert, die Fragen Kants: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
Und religiös natürlich die Frage nach Gott, die Frage nach der Unsterblichkeit und in den letzten Jahren immer schmerzhafter: die Frage nach dem Leid.
Jedes Gedicht ist der Versuch einer Antwort, die sich dann als neue Frage entpuppt.
Seit 1995 sind Sie freier Schriftsteller und Lehrbeauftragter für Philosophie. Beinah jedes Jahr veröffentlichen Sie einen neuen Lyrikband, mittlerweile sind es beinahe 20. Es scheint, als würden Ihnen die Ideen nie ausgehen. Haben Sie auch mal damit zu kämpfen, dass Ihnen die Worte für ein neues Gedicht fehlen?
Ich kämpfe dauernd. Mir fehlen ständig die Worte. Aber das ist immer der Antrieb zu neuen Gedichten. Mit Nelson Goodman glaube ich, dass es in der Kunst um Erkenntnis geht. Im Grunde sind es nicht die Ideen, die mir nicht ausgehen, sondern die Fragen. Jedes Gedicht ist der Versuch einer Antwort, die sich dann als neue Frage entpuppt. So kommt man eigentlich nie an ein Ende.
Wenn auch das titelgebende Gedicht »Alpenüberquerung« Ihres jüngsten Gedichtbandes (Allitera Verlag, München 2016) sich auf die letzte Reise einer Mutter bezieht, lässt es in mir die Frage aufkommen, ob ein ganzes Menschenleben als Gebirgswanderung angesehen werden könnte. Sehen Sie das Leben so, dass man im Laufe der Jahre immer wieder kleine oder größere Hindernisse zu überwinden hat, um irgendwann endlich ans letzte Ziel zu gelangen?
Ja, so sehe ich das.
Ihre Gedichte in dem Band reichen von Kindheitsexkursionen des Lyrischen Ichs an der Hand des Vaters über Auslandsreisen oder die Geburt von Nachkommen bis hin zu dem Punkt, an dem die eigene Kindheit endgültig für abgeschlossen erklärt werden muss: wenn ein Elternteil stirbt. Irgendwo dazwischen, in dem Gedicht »Vom beginnenden Alter«, die Erkenntnis, dass eine »nachlassende Sehkraft« eine Gnade darstellen kann (»andere setzen nur die Brille ab / und sind im Paradies«). Kann das Geschenk eines scharfen Verstandes zur Last werden?
Verstand kann man wohl nie zu viel besitzen und sollte sich immer noch mehr wünschen. Lassen Sie mich lieber von Fantasie sprechen, die tatsächlich ein Fluch sein kann, wie jeder Hypochonder weiß – oder von der Sehkraft, wie in meinem Gedicht. Ich besitze für mein Alter noch immer sehr gute Augen. Wenn ich im Bett liege, sehe ich an der Decke unseres Altbaus – ob ich will oder nicht – die Risse und Sprünge aus der Kriegszeit, die quer über die Mauern bis in den Keller hinablaufen – und ich beginne, diesen Rissen hinterherzudenken … selbst im Dunkeln noch. Diese und ähnliche Risse sind schuld daran, dass ich in den letzten Jahren sehr mit Schlaflosigkeit kämpfe. Insofern ja: zu gute Augen können durchaus eine Last sein …
Religion ist in unserer Gesellschaft ein Tabu wie früher Sexualität.
In dem Gedicht »Wunder über Wunder«, das wie einige andere auch einen Besuch in Rom thematisiert, heißt es: »Ja, ich verstehe sie, diese Sucht / mit jedem Jahr mehr – / Ja, auch ich möchte Kapellen bauen / Altäre errichten –«. Sind Sie ein gläubiger oder zumindest spiritueller Mensch?
Ja, Sie haben Recht! Auf meine sehr unvollkommene, sehr undogmatische und sehr fehlbare Weise versuche ich ein Christ zu sein – und ich versuche auch, mir auf all das einen philosophischen und literarischen Reim zu machen. Das fließt immer wieder ein in mein Schreiben. Das Thema Religion gibt dabei jedes Mal einen kleinen elektrischen Schlag. Religion ist in unserer Gesellschaft ja ein Tabu wie früher Sexualität. Mit solchen Gedichten setze ich mich oft zwischen alle Stühle – für Atheisten sind sie befremdlich, für Gläubige wirken sie nicht selten ketzerisch. Tatsächlich habe ich eine gewisse Schwäche für Ketzer wie Origenes oder den in Rom verbrannten Giordano Bruno …
Ihr Gedichtband »Alpenüberquerung« wirkt auf mich sehr persönlich. In einem ganzen Kapitel lässt uns das Lyrische Ich am Sterbeprozess der Mutter teilhaben, verquickt mit Erinnerungen aus jungen Jahren. Die Gedichte gehen sehr nahe und zwingen den Leser förmlich, sich mit der eigenen Vergänglichkeit und dem Ableben nahestehender Personen auseinanderzusetzen. Haben Ihnen persönlich diese Gedichte geholfen, den Trauerprozess besser zu bewältigen?
Ja. Immer wenn ich aus dem Sterbezimmer meiner Mutter kam, war ich fassungslos. Ich notierte Worte, um wieder Fassung zu finden. Erst wenn ein Gedicht auf dem Blatt stand, konnte ich in das Sterbezimmer zurückkehren. Mir ist bewusst, dass das ein Privileg war. Meine Geschwister mussten ohne Gedichte mit der Situation fertig werden.
Ihre Gedichte bestechen durch eine große Verständlichkeit, der Leser muss nicht andauernd Hieroglyphen entschlüsseln oder über kryptische Formulierungen grübeln. Das macht Lust auf mehr.
Vielen Dank! Ich versuche Gedichte zu schreiben, wie ich sie selbst gerne lesen würde. Eine andere Rechtfertigung habe ich nicht für meinen Stil. Aber es freut mich natürlich, wenn Leser ähnlich empfinden.
Seit 2003 sind Sie Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste …
Ja, so lange ist das schon wieder her. Damals waren noch Heinz Piontek, Rainer Malkowski, Walter Helmut Fritz und Richard Exner Mitglieder – alles Freunde, nun alle schon lange tot.
Was mich an Amnesty International fasziniert, ist die Einfachheit des Anliegens und die ethische Unbestechlichkeit.
Ihre Gedichte wurden in viele Sprachen übersetzt, ins Englische, Französische, Italienische, Tschechische, Ungarische, Rumänische und Arabische. Sie waren Gastautor bei zahlreichen internationalen Literaturveranstaltungen und Seminaren. So international wie Ihr literarisches Leben und Werk ist auch Ihr soziales Engagement als Mitglied bei Amnesty International. Seit wann setzen Sie sich dort ein und warum haben Sie sich ausgerechnet für diese Organisation entschieden?
Ich begann in den späten 80er Jahren für Amnesty International zu arbeiten und war Gruppenmitglied von 1989 bis 1996. Dann wurden unsere Kinder geboren, ich hatte nicht mehr die Zeit für konkrete Arbeit, blieb aber AI weiter verbunden, auch durch Spenden. Seit einem Jahr bin ich wieder aktives Mitglied in einer Gruppe, die sich speziell für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe engagiert.
Was mich an Amnesty International fasziniert, ist die Einfachheit des Anliegens und die ethische Unbestechlichkeit. Amnesty International ist eine Organisation, die nur ein einziges Ziel hat – sich für die Menschenrechte einzusetzen, unabhängig von Hautfarbe und Geschlecht, Partei und Religion. Der englische Rechtsanwalt Peter Benenson hat sie im Jahr 1961 gegründet, in spontaner Empörung über Folterberichte, die er in der Zeitung las. Diese spontane Empörung – es darf nicht sein, dass Menschen unterdrückt und gefoltert und hingerichtet werden! – scheint mir eines der besten Motive zu sein, aus denen ein Mensch handeln kann. Als ich zum ersten Mal mit der Arbeit von Amnesty International näher in Berührung kam, hat mich diese Empörung einfach mitgerissen. Ich hatte das Gefühl: Was auch immer an meinem Leben sonst sinnvoll oder sinnlos sein mag, DIESE Arbeit werde ich nie bereuen.
In welcher Weise engagieren Sie sich in der Organisation?
Ich bin, wie gesagt, aktives Mitglied einer Gruppe, die sich speziell für die Abschaffung der Todesstrafe engagiert. Die konkrete Arbeit besteht derzeit in Mahnwachen, Informationsständen, Sammeln von Unterschriften für Petitionen, Beteiligung an Petitionen, Briefen und Mails zu Urgent Actions etc. …
Am 25. Oktober 2017 werden viele Poetinnen und Poeten, darunter auch Sie selber, im Herzen Münchens für die Menschenrechte protestieren und lesen. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsveranstaltung von Amnesty International und dem Anton G. Leitner Verlag | DAS GEDICHT. Gemeinsam möchte man wachrütteln, Aufmerksamkeit erzielen. Welche politischen Hintergründe stehen im Fokus?
Amnesty International nennt als zentrale Themen derzeit: Massenverhaftungen in der Türkei, Einwanderungsdekrete in den USA, Folter in ägyptischen Gefängnissen und zahllose Menschenrechtsverletzungen in Syrien. Aber es gibt natürlich noch viele andere Brennpunkte – leider.
Welche Art Texte werden die Poeten lesen?
Lassen Sie sich überraschen!
Ludwig Steinherr
Alpenüberquerung
Gedichte
Lyrikedition 2000 im Allitera Verlag, München 2016
204 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-86906-945-6
Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.