Jubiläumsblog. Ein Vierteljahrhundert DAS GEDICHT
Folge 19: Norbert Göttler – Der Mensch hinter dem Dichter

Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.

Norbert Göttler, geboren 1959 in Dachau, studierte Philosophie, Theologie und Geschichte in München und promovierte 1988 im Fach Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Als freier Publizist und Schriftsteller arbeitet er für verschiedene Zeitungen und Verlage. Als Fernsehregisseur ist er für diverse öffentlich-rechtliche Sender tätig.

Von 2000 bis 2012 war Göttler Lehrbeauftragter für Wissenschaftsjournalistik an der Hochschule für Philosophie München. 2013 übernahm er eine Gastprofessur an der Tulane-Universität, New Orleans (USA). Seit 2012 ist er hauptamtlicher Bezirksheimatpfleger des Bezirks Oberbayern.

Göttler ist Mitglied des deutschen und des Deutschschweizer PEN-Clubs, der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg), des Münchner Presse-Clubs und der Literatenvereinigung »Münchner Turmschreiber«, deren Co-Präsident er von 2000 bis 2011 war. Seit 2012 ist Göttler Redaktionsmitglied der Zeitschrift »Literatur in Bayern«.

Dr. Norbert Göttler ist unter anderem Bezirksheimatpfleger für Oberbayern. In dieser Funktion ist er Gastgeber des Lyrik-Colloquiums »Die Zukunft der Poesie« im Oktober 2017 in Benediktbeuern. Mit Franziska Röchter sprach er über mittelalterliche Vagantenlieder, Bewahrung alten Sprachgutes und moderne, zukunftsträchtige Heimatpflege.

Heimatpflege muss Gegenwarts- und Zukunftsverantwortung übernehmen.

Lieber Norbert Göttler, seit 2012 sind Sie Bezirksheimatpfleger für Oberbayern. Ihr Büro und das Ihrer Mitarbeiter ist im Maierhof des Klosters Benediktbeuern angesiedelt. Im Oktober dieses Jahres findet im Rahmen des 25-jährigen Jubiläums von DAS GEDICHT in Benediktbeuern eine Klausurtagung zur Zukunft der Poesie statt. Was gibt es in dieser einzigartigen Klosteranlage zu entdecken?

Das Kloster Benediktbeuern, zwischen Bad Tölz und Murnau am Fuß der Benediktenwand gelegen, ist eine der größten und ältesten barocken Klosteranlagen Süddeutschlands. Jahrhundertelang Benediktinerkloster, wurde es 1802 säkularisiert und beherbergt heute außer einem Salesianer-Konvent eine Reihe von Bildungs- und Kultureinrichtungen. Zum Beispiel das »Zentrum für Umwelt und Kultur ZUK«, die Hochschule für Soziale Arbeit sowie Heimatpflegeeinrichtungen des Bezirks Oberbayern. Künstlerisch ist vor allem die Anastasia-Kapelle zu erwähnen, zu deren Bau und Ausstattung jeder einen Beitrag leistete, der im barocken Bayern Rang und Namen hatte.

Die »Carmina Burana«, also die »Gedichte aus Benediktbeuern« oder »Lieder aus dem Kloster Benediktbeuern«, haben scheinbar nichts von ihrer Faszination verloren: So hat zum Beispiel die Mittelalter-Rock-Band »Corvus Corax« auf den »Cantus Buranus«-Alben in den Nullerjahren ihre ganz eigene Interpretation der Carmina Burana vertont. Die ursprünglichen Lieder sollen aber gar nicht im Kloster entstanden sein?

Die schriftlichen Quellen der Carmina, mittelalterliche Vagantenlieder mit teils frivol-erotischem Inhalt, sind wohl irgendwann von Wandermönchen in die Benediktbeurer Bibliothek eingebracht worden, Genaues weiß man nicht. Durch die Säkularisation wurden sie in die Bayerische Staatsbibliothek nach München gebracht und dort publiziert.

Weltweiten Ruhm erlangten sie aber erst durch die Vertonung von Carl Orff vor genau 80 Jahren – also in der Zeit des Dritten Reichs. Im Herbst werden wir eine Ausstellung über die wechselvolle Geschichte der Carmina organisieren.

Im Rahmen Ihrer Tätigkeiten als Heimatpfleger legen Sie großes Augenmerk auf die Bewahrung alten Sprachgutes. 2014 und 2015 haben Sie die beiden Bände »Irxenschmoiz und Wedahex« sowie »Ohrwuzler und Zeiserlwagen: Alte bairische Worte, wiederentdeckt und erklärt von Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler« veröffentlicht. Wer weiß denn heute noch, was ein »Bschoad« oder ein »Koprata« ist? Wörter wie »Wedahex« oder »Haderlump« klingen dagegen nicht ganz so fremd. Wie erforschen Sie solche urbairischen Worte, die ja oft nur mündlich weitergegeben werden?

Es handelt sich um einen Sprachschatz, den unseren Eltern und Großeltern verwendet haben. Also gibt es immer noch Zeitzeugen und Mundartsprecher, mit denen man sich beraten kann. Die Zeit drängt, denn diese Menschen sterben langsam aus und viele Begriffe geraten in Vergessenheit.

In dem Band »Irxenschmoiz und Wedahex« mahnen Sie im Vorwort zur Gelassenheit im Umgang mit der Mundart. Es gebe bei der Vielfalt an feinen Sprachgrenzen kein Richtig und Falsch und auch nicht das einzig wahre Bairisch. Was kann man unternehmen, damit einzelne Wörter nicht ganz aussterben? Müsste man nicht per Audioaufnahmen flächendeckend und kontinuierlich Querschnitte aktueller Sprachgebräuche dokumentieren und aufbewahren?

Audioaufzeichnungen sind wichtig und werden teilweise auch organisiert. Im Schriftlichen besteht das Problem, dass man eigentlich auf die hochkomplexe Lautschrift zurückgreifen müsste, um Dialekt adäquat wiederzugeben. Unsere Vorfahren haben ihre Mundart praktisch nur gesprochen, nicht geschrieben –von einigen Literaten abgesehen. Das macht es heute schwer, Mundartformen zu verschriftlichen.

Es geht darum, welche Heimat wir der nächsten und übernächsten Generation vererben wollen.

Was genau ist unter dem Begriff der »erweiterten Heimatpflege« zu verstehen? Kann Heimatpflege überhaupt losgelöst vom Politischen betrachtet werden?

Heimatpflege kann sich heute nicht mehr nur mit den klassischen Themen wie Brauch, Musik und Kleidung beschäftigen, sondern ist ein gesellschaftspolitischer Faktor geworden. Es geht darum, welche Heimat wir der nächsten und übernächsten Generation vererben wollen. Darum spielen Themen der Landesplanung, des Denkmalschutzes, der Ökologie, ja auch der Menschenrechte und der politischen Kultur eine immer wichtigere Rolle bei uns. Heimatpflege ist historisch und ethnologisch fundiert, muss aber Gegenwarts- und Zukunftsverantwortung übernehmen.

Norbert Göttler. Foto: Volker Derlath
Norbert Göttler. Foto: Volker Derlath

Herr Göttler, nach einer Regieausbildung beim Bayerischen Rundfunk arbeiteten sie lange unter anderem für die ARD, für 3sat, arte und den Bayerischen Rundfunk. Sie haben bei einer unglaublichen Anzahl von Filmen Regie geführt. Zumeist handelt es sich um Dokumentarfilme, die die Schönheit und Einzigartigkeit bairischer Landschaften und Kulturgüter zeigen. Sind Sie heute noch in diesem Bereich aktiv oder filmen Sie lieber privat?

Privat habe ich nie gefilmt und mache das auch heute nicht. Meine Tätigkeit als Bezirksheimatpfleger lässt mir kaum mehr Zeit für Fernseharbeit, von einzelnen Moderationen und Interviews abgesehen. Auf der anderen Seite nutze ich alle Möglichkeiten der traditionellen, aber auch der neuen sozialen Medien, um auf heimatpflegerische und kulturelle Themen hinzuweisen.

Seit 2012 sind Sie Redaktionsmitglied der Zeitschrift »Literatur in Bayern«, die seit 1985 den bayerischen Literatur- und Kulturkreis repräsentiert. Was sind Ihre Themengebiete?

Die »Literatur in Bayern« ist ein kleines, aber wichtiges Medium für zeitgenössische, kritische Literatur, die in Bayern entsteht. Sie will dazu beitragen, das Sepplbayernklischee, das immer noch enorm wirksam ist, abzubauen. Vor allem Gert Holzheimer hat sich in dieser Aufgabe verdient gemacht, aber ich leiste gerne meinen Beitrag dazu.

Seit Ende Mai läuft im Ludwig-Thoma-Haus in Dachau Ihr Theaterstück »Thoma – Eine Selbstzerstörung«. Worum geht es in diesem Stück?

Ludwig Thoma ist politisch, literarisch und menschlich einer der zerrissensten Autoren Bayerns und polarisiert deshalb bis heute stark. In meinem Bühnenstück wollte ich den Ursachen dieser Ambivalenz nachgehen und sie plastisch erlebbar machen.

Vor fünf Jahren nach Ihren Zukunftsplänen befragt, antworteten Sie, in der Heimatpflege entstünden gerade ein »Salon Oberbayern« und eine »Zukunftswerkstatt Heimat«, vielleicht auch ein dezentrales Dokumentarfilmfestival. Was ist aus diesen Ideen geworden, ließ sich alles problemlos umsetzen?

Die Zukunftswerkstatt hat sich realisieren lassen, heuer im Herbst wird im Kleinen Theater Haar eine weitere Sitzung zum Thema »Heimat Europa?« stattfinden. Das Dokumentarfilmfestival konnte nicht starten, weil der Hauptinhaber dieser regionalen Dokumentarfilme, der Bayerische Rundfunk, zu viele rechtliche Probleme darin gesehen hat. Schade, da hat mal wieder das Behördendenken über eine kreative Idee gesiegt. Kommt vor …

Lieber Norbert Göttler, herzlichen Dank für das Gespräch!

 
Norbert Göttler
Ohrwuzler und Zeiserlwagen

Alte bairische Worte, wiederentdeckt und erklärt von Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler
Bayerland Verlag, Dachau 2015
96 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-89251-465-7

Norbert Göttler
Irxenschmoiz und Wedahex

Alte bairische Worte, wiederentdeckt und erklärt von Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler
Bayerland Verlag, Dachau 2014
96 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-89251-454-1

 

Franziska Röchter. Foto: Volker Derlath

Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.


Die »Internationale Jubiläumslesung mit 60 Poetinnen und Poeten« zur Premiere des 25. Jahrgangs von DAS GEDICHT (»Religion im Gedicht«) ist eine Veranstaltung von Anton G. Leitner Verlag | DAS GEDICHT in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Mit Unterstützung der Stiftung Literaturhaus. Medienpartner: Bayern 2.

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