Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.
Einen Gedichtband über die eigene Krankheit zu verfassen, ist ein Wagnis. Paul-Henri Campbell ist es gelungen, eine bestimmte Sprache dafür zu finden. Ob aber wirklich in unserer Gesellschaft alles »von und für gesunde Menschen gedacht« ist, darüber lässt sich diskutieren – denn wo sind all die Gesunden?
Im Nachwort zu Paul-Henri Campbells Gedichtband »nach den narkosen« (Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2017) schreibt der Autor: »Alles ist von und für gesunde Menschen gedacht, die Institutionen, die Metaphern, die Vorstellungen des gelingenden Lebens, unsere religiösen Kategorien. Kranke stehen naturgemäß quer zu diesen gesunden Paradigmen.« Er schlägt einen neuen Begriff für dieses Phänomen vor, den Begriff der »Salutonormativität«.
Wenn man sich länger oder immer in der Welt der ›Kranken‹ aufhält oder aufhalten muss, sei es als Betroffener oder als Angehöriger, stellt man jedoch unweigerlich fest, dass diese Welt immer größer wird und die Relationen zur sogenannten gesunden Welt sich verschieben, dass Gesundheit längst nicht mehr der Maßstab ist. So berichtet etwa die Tagespresse, dass jedes sechste Kind chronisch krank sei und jeder vierte Jugendliche von Krankheit betroffen, wie auf dem 47. Kinder- und Jugendärztetag im Juni 2017 in Berlin festgestellt wurde. Dazu würden sowohl leichtere als auch gravierendere Erkrankungen wie Krebs zählen. 30 bis 40 Prozent aller Kinder sollen beispielsweise an Allergien leiden. Nähmen wir den Anteil chronisch oder akut depressiver Menschen hinzu, müsste die Frage also eher lauten, wie viele ›Gesunde‹ eigentlich übrig bleiben.
Da die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit fließend sind und das subjektive Empfinden eine große Rolle spielt, habe ich mich mit der Frage auseinandergesetzt, inwiefern ich Paul-Henri Campbells Meinung teilen kann. Schließlich wird doch sehr viel für kranke Menschen getan, und wie es konkret um die Gesundheit der Hilfsmittelerfinder oder der Krankheits- und Therapieforscher aussieht, wissen wir nicht in allen Fällen. Ist die Wahrscheinlichkeit mittlerweile nicht sogar sehr groß, dass immer mehr ›kranke‹ Menschen auch an der Entwicklung von Therapieverbesserungen und am medizinischen Fortschritt beteiligt sind? Und wenn man sich in Fitnessstudios umschaut, nimmt man wahr, dass ein größerer Teil der Klientel mittlerweile Menschen sind, die wegen ihrer vielen gesundheitlichen Probleme von ihren Ärzten zu Aktivität genötigt werden. Sind wir nicht bald ein Volk von ›Kranken‹?
Paul-Henri Campbell schreibt in seinen Anmerkungen zu seinem Gedichtband, dass er aufgrund seiner Insuffizienz zu dem wurde, der er ist. Warum diese Konzentration auf den Begriff des Defizitären? Natürlich ist eine Krankheit am ›Motor‹ des Menschen je nach Schweregrad ein ganz besonderer Umstand und eine im wahrsten Sinne des Wortes zentrale Angelegenheit. Nicht zuletzt durch meine Arbeit am Manuskript einer Herzpatientin, die auf ein Spenderorgan hofft, ist es für mich gut vorstellbar, dass es keine Sekunde am Tag und in der Nacht gibt, in der nicht zumindest unterschwellig Gedanken um das erkrankte Organ kreisen. Das Herz ist lebenswichtig. Allerdings gibt es auch Menschen mit einem unheilbarem Hirntumor oder einer anderen unheilbaren degenerativen Erkrankung, die ebenfalls gefangen in ihrer Sorge wegen der Krankheit sind. Die Frage ist, ob die ›Suffizienz‹, das Perfekte, das vermeintlich Gesunde überhaupt existiert. Hätten wir nicht ein ganz anderes Weltbild, wenn wir alle körperlichen und geistigen Gegebenheiten, die möglich sind, als das Reguläre akzeptierten, so wie das Leben ja auch nicht nur aus Leben, sondern gleichzeitig aus dem Umstand seiner zeitlichen Limitation besteht?
Wenn Paul-Henri Campbell schreibt, alles sei von und für gesunde Menschen gedacht, eben auch die Vorstellungen des ›gelingenden‹ Lebens, unsere religiösen Kategorien, stellt sich zwangsläufig die Frage: Wissen wir überhaupt, was für manche Menschen ein ›gelingendes‹ Leben bedeutet, schließlich gibt es nicht wenige Menschen, die ihre Vorstellungen nicht artikulieren oder kommunizieren können? Was ist für Paul-Henri Campbell das ›gelingende‹ Leben?
Er spricht von einer Sprache, die aus der Insuffizienz kommt. Diese klingt meines Erachtens in einigen Gedichten schon ganz zu Anfang durch, etwa wenn es inder letzten Strophe von »iii. nach der erfindung des kardiogramms« heißt: »… dann dort da / wie stolpernd plötzlich ein zickzick zwischen / den weit ausschlagenden klopf klopf linien / ein zickzacken vor dem schlag die zündung / elektrisch erregt die regung der kammer …«, indem unablässig Worte wiederholt werden, krasser noch in dem Zyklus »medtronic KAPPA KSR 901«, in dem in unterschiedlichen Dichten und mit unterschiedlich vielen Auslassungen ein Herzschrittmacher beschrieben wird. Des Öfteren werden wir mit dem Bild der »geschälten Mandarinen« konfrontiert. Was bedeutet es ihm?
In seinem Nachwort zu seinem Gedichtband berichtet der Autor von der zweiten Nacht nach vierten Herzschrittmacher-OP in 2015. Er befindet sich aus verschiedenen Gründen in der Kinderkardiologie und in sein Zimmer wird ein Bett mit einem zweijährigen, frisch operierten Jungen geschoben. Die Schilderung dessen, was dann passiert, ist sehr eindringlich – das Kind überlebt den Eingriff nicht. War es eine erste unmittelbare Erfahrung des Autors mit dem Tod?
In dem Text »iii. embryonenschutzgesetz« aus dem Zyklus »undankbare sentenzen« sinniert Paul-Henri Campbell über die Diskrepanz zwischen dem technisch Machbaren, beispielsweise in der Arbeitswelt, und wie der Mensch sich mittels seiner Intelligenz selbst redundant macht, gleichzeitig aber durch ethisch und sozial motivierte Gesetzgebungen den imperfekten Menschen zu schützen sucht. Was bedeutet hier ein funktionierender Wohlfahrtsstaat?
Im Juni 2017 trat Paul-Henri Campbell zusammen mit Nora Gomringer im Rahmen der Frankfurter Lyriktage in Oberursel auf. Zusammen loteten sie die Facetten lyrischer Krankheitsdiagnosen wie Pest, Depressionen oder ein krankes Herz im individuellen und gesellschaftlichen Kontext aus, um anschließend mit den Zuschauern über das Thema Krankheit zu sprechen. Unter anderem ging es um die Fragen: Welche Zeiten brüten welche Krankheiten aus? Werden Krankheiten instrumentalisiert? Mit Sicherheit eine höchst relevante Veranstaltung – in diesen Zeiten.
Paul-Henri Campbell
nach den narkosen
Gedichte
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2017
96 Seiten, Paperback
ISBN 978-3-88423-556-0
Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.