Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.
Alexandra Palme kümmert sich um die digitale Sichtbarkeit des Anton G. Leitner Verlags. Mit Franziska Röchter sprach sie über die Auswirkungen der Omni-Connectivity sowie über Anforderungen an den Autor und das Verlagsgeschehen der Zukunft.
Man muss unabhängiger vom Buch als Endprodukt denken.
Liebe Alex, nachdem ich gerade herausgefunden habe, dass es wirklich eine Alexandrapalme (Archontophoenix alexandrae, auch Bangalowpalme, eine unkomplizierte und sehr attraktive Fiederpalme) gibt, frage ich mich: Bist du nach ihr benannt oder umgekehrt?
Das ist in der Tat eine witzige Koinzidenz, von der ich auch selber immer wieder gerne erzähle. Von dieser Palmenart habe ich allerdings erst durch das Internet erfahren – da dieses um die Zeit meiner Geburt aber zivilen Nutzern noch nicht zugänglich war, gehe ich stark davon aus, dass meine Eltern damals keine Kenntnis von ihrer Existenz hatten und schlicht den Namen »Alexandra« schön fanden.
Auf deiner Website bezeichnest du dich unter anderem als »studierte Orchideenfächlerin«. Welches war denn dein Orchideenfach und warum?
Mein Haupt-Orchideenfach war die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, auch Komparatistik genannt, flankiert von zwei weiteren Orchideen, nämlich von der Amerikanischen Literaturgeschichte und der Computerlinguistik. Ich wollte unbedingt »etwas mit Literatur« studieren, aber die Einzelphilologien haben mich nicht wirklich angesprochen. An der Komparatistik hat mich der Blick über den Tellerrand gereizt und meine Erwartungen wurden glücklicherweise nicht enttäuscht.
Man kann grade auch bei Jüngeren eine Art Gegenbewegung zur allgegenwärtigen Technikabhängigkeit beobachten.
Es soll ältere Menschen, hin und wieder sogar Autoren, geben, die Hemmungen vor dem ganzen Elektronikhype haben oder gar bewusst auf ein Handy verzichten. Kannst du persönlich das verstehen?
Das betrifft ja nicht nur ältere Menschen, im Gegenteil kann man gerade auch bei Jüngeren eine Art Gegenbewegung zur allgegenwärtigen Technikabhängigkeit beobachten – kein Wunder, kann die ständige Erreichbarkeit ja auch zu einem Gefühl des ständigen Getriebenseins beitragen, hinzu kommen beispielsweise Bedenken in Hinblick auf den Datenschutz. Ich kann das durchaus verstehen und versuche auch, mir zumindest ab und an kleine Offline-Auszeiten zu gönnen – besonders wenn man beruflich viel im Netz unterwegs ist, tut das zwischendurch einfach mal gut. Ein kompletter Verzicht wäre für mich aber undenkbar, da mir dann einfach Kommunikations- und Informationskanäle fehlen würden.
Auch wenn ich etwaige Hemmungen verstehen kann, würde ich zumindest empfehlen, sich nicht von einer diffusen Angst abhalten zu lassen und sich zumindest einmal mit dem Thema intensiv auseinanderzusetzen, da das Web natürlich wahnsinnig viele Facetten hat und Möglichkeiten bietet. Wenn man danach immer noch der Meinung ist, dass das alles nichts für einen ist, dann finde ich das vollkommen in Ordnung.
In einem größeren Kontext stellt sich aber sicher die Frage, ob sich hier gerade »evolutionär« tiefgreifend etwas verändert.
Was hältst du als durch und durch digitalisierter Mensch von der These, dass sich unser Denken und unsere Hirnstrukturen auf Dauer durch exzessiven Gebrauch der digitalen Medien verändern sollen? Stellst du da sämtliche Synapsen auf Durchzug?
Tatsächlich finde ich Studien und Diskussionen zu diesen Themen sehr spannend. Ich denke nicht, dass man das leichtfertig abwinken sollte, sondern sich vielmehr Gedanken machen, wie man selbst damit umgehen und die digitalen Medien umsichtig nutzen kann. Dies gilt natürlich vor allem, wenn man Kinder hat und diesen einen sinnvollen Umgang mit der digitalen Welt beibringen möchte.
In einem größeren Kontext stellt sich aber sicher die Frage, ob sich hier gerade »evolutionär« tiefgreifend etwas verändert – und wenn ja, ob das eine gute Entwicklung ist. Aber wäre es in einer durchdigitalisierten Welt nicht so, dass im Sinne von »survival of the fittest« diejenigen Menschen einen Vorteil hätten, die sich darin am besten – und also auch am »energieeffizientesten« – zurechtfinden? Und dabei kann ein »neu verdrahtetes« Gehirn ja durchaus sinnvoll sein …
Ich mache auch die Beobachtung, die du eben schon ansprachst, dass vereinzelt jüngere Menschen eine Art Rückzug von der Dauerpräsenz in den sozialen Medien antreten. Ist es abzusehen, dass diesbezüglich eine größere Gegenbewegung entstehen wird?
Diese Gegenbewegung kann man durchaus beobachten – allerdings glaube ich nicht, dass sich ein kompletter Technik-Boykott im Mainstream durchsetzen wird. Es ist sicher auch immer eine Frage der Lebensphase – und von denen durchlaufen ja gerade Teenager viele innerhalb einer kurzen Zeit. Auf eine extreme Nutzungsphase folgt dann vielleicht erst einmal ein komplettes Ausklinken, nur um dann in einem gemäßigten Umgang mit den sozialen Netzwerken zu münden. Ich hoffe aber, dass zumindest die extreme Selbstinszenierung auf Instagram und Co. etwas abebben wird. Momentan scheint es zumindest so, als würde die glitzernde Fassade vieler (gerade für junge Menschen oft wichtiger) »Influencer« dort erste Risse bekommen.
Der klassische (arme) Poet, der in seinem stillen Kämmerlein vor sich hin schreibt, gehört einer »aussterbenden« Spezies an.
Man liest ja oft solche schwülstigen Werbesätze wie »Das Paradigma der Cloud revolutioniert die Wertschöpfungssysteme der Zukunft«, doch manch einer hat eher schwammige Vorstellungen vom Wesen der Cloud. Sind Autoren heute nicht verloren, wenn sie nicht gleichzeitig Internet- und Computerfreaks sind?
Ich glaube nicht, dass man direkt ein Freak oder Spezialist sein muss, aber eine gewisse Offenheit und Neugier sollte man idealerweise schon mitbringen. Schließlich eröffnet das Netz ja auch neue Vermarktungswege abseits des klassischen Buchhandels, es erlaubt den direkten Austausch mit LeserInnen und Schriftsteller-KollegInnen und bringt dadurch auch eine Dynamik in den Literaturmarkt. Den klassischen (armen) Poeten, der in seinem stillen Kämmerlein vor sich hin schreibt (und für den ansonsten sein Verlag alles managt) mag es deshalb heutzutage durchaus in seltenen Fällen noch geben, aber ich denke, dass er einer »aussterbenden« Spezies angehört. Vernetzung – und zwar nicht nur online – gehört heutzutage einfach zum Handwerkszeug.
Der Begriff »Crowd« hat auch nicht zwingend nur etwas mit Crowdfunding oder Crowdsourcing zu tun?
Die »Crowd« bezeichnet erst einmal eine Menge an Menschen. Das ist vielleicht auch schon das wichtigste Stichwort: Es handelt sich tatsächlich um Menschen! Hier ist das Netz quasi der Zugangspunkt, über den man viele Angehörige der eigenen Spezies erreichen und beispielsweise deren Stärken oder Wissen »anzapfen« kann – etwa finanziell (Crowdfunding) oder intellektuell/kreativ (Crowdsourcing). Die vermutlich schönste Crowd für Künstler aller Art ist aber das Publikum bei einem Auftritt – und auch von diesem kann man wertvollen Input erhalten!
Wenn Inhalte in Massen veröffentlicht werden, wird die Auswahl für die LeserInnen immer schwieriger.
Was könnte Industrie 4.0 ganz praktisch im Hinblick auf die Buchproduktion bedeuten? Oder präziser: Was könnte Industrie 4.0 im Hinblick auf das Verlagsgeschehen bedeuten?
Puh, darüber kann man natürlich ganze Bücher schreiben – oder vielleicht doch eher E-Books? Oder eine Artikelserie? Oder vielleicht gleich eine Vortragsreihe halten?
In diesen Fragen steckt schon eine wichtige Aufgabe der Verlagsbranche in der heutigen Zeit: die richtigen Kanäle für Inhalte identifizieren, die Inhalte entsprechend aufbereiten und ein Publikum finden. Man muss also unabhängiger vom Buch als Endprodukt denken. Hinzu kommt die immer stärkere Bedeutung der Selektion. Wenn nämlich Inhalte in Massen veröffentlicht werden, wenn sie also omnipräsent und von jedem publizierbar sind, wird die Auswahl für die LeserInnen immer schwieriger. Ein Verlag, der ein guter Kurator ist und sich auch eine entsprechende Wahrnehmung aufgebaut hat, kann dann als vertrauenswürdige Quelle für »guten Lesestoff« Erfolg haben. Dieselben Mechanismen können sich aber auch AutorInnen, die lieber selber publizieren, zu Nutze machen!
Werden echte Kleinverlage im Dschungel von Cross- bzw. Hybrid-Media und Digital Content Services noch mithalten können? Schließlich bedeutet dieser Wandel im Zeichen von Big Data doch auch Investition?
Ja, das ist richtig: Wenn man technisch in jedem Bereich Schritt halten möchte, sind die nötigen Investitionen nicht zu unterschätzen. Helfen können hier zum Beispiel Zusammenschlüsse mit anderen kleinen Verlagen und gemeinsame Investitionen. Oder der »Mut zur Lücke« – besser gesagt: die Spezialisierung auf ein Kernthema. Damit kann man sich nämlich auch gezielter eine Leserschaft aufbauen, AutorInnenpflege betreiben und sich überlegen, welche Produkt-»Trends« von der eigenen Zielgruppe eigentlich überhaupt gewünscht werden. Anders ausgedrückt: Nicht jeder Hype, der etwa von digitalen Vermarktern gepusht wird, ist für jedes Unternehmen und jedes Produkt sinnvoll. Da müssen gerade die kleinen Verlage ein Gespür entwickeln, auf welche Entwicklungen sie setzen sollten.
Lyrik als Gegengewicht
Unser Leben im Netz wird laufend konserviert, dokumentiert, interpretiert, evaluiert –ein Abziehbild der Realität. Keine Aktion ist dort möglich, ohne anschließend zur Bewertung des Geschehens und der Effektivität der Mitarbeiter aufgefordert zu werden. Haben wir zwischen Click-Analyse und Webtracking, zwischen personalisierter Pop-up-Werbung und Cloud-Computing überhaupt noch genug Zeit fürs Tagesgeschäft, fürs Leben selbst?
… nicht zu vergessen, dass sich diese allgegenwärtige Evaluierung mittlerweile so verankert hat, dass die »Selbstoptimierung« bei vielen auch offline zum guten Ton gehört. Fitnesstracking, Kalorienzählen, Speedreading-Techniken, Powernapping – da ist sehr viel Mittel zum Zweck und sehr wenig Selbstzweck, eine Entwicklung, die ich ein Stück weit bedauere und der gleichzeitig die Lyrik vielleicht ein gutes Gegengewicht sein kann. Was die Zeit angeht: Die muss man sich ganz klar nehmen – und, wie schon Peter Lustig sagte: Einfach mal abschalten!
Liebe Alex, herzlichen Dank für das interessante Gespräch!
Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.