Neugelesen – Folge 37: Jan Wagner »Guerickes Sperling«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 
 
Jan Wagner ist ein hoch dekorierter Lyriker aus Hamburg, lebend in Berlin, dessen Gedichte von Beginn an sehr laboriert angetreten sind. Eine kleine Sensation war es schon, dass ein Gedichtband 2015 den Buchpreis der Leipziger Buchmesse gewann. Das preisgekrönte Buch war Wagners Regentonnenvariationen. Ohne großes Vorspiel folgen ein paar Gedanken zu seinem zweiten Gedichtband Guerickes Sperling von 2004 (Berlin Verlag), und über ihn hinaus.
 
Eine entscheidende Abstraktion seines Schaffens: Jan Wagner dichtet gerne mit traditionellem Formbewusstsein. Viele seiner Gedichte zeigen sich in alten Gewändern: Ekloge, Elegie, Sonett und andere Strophen-, Lied- und Gedichtformen. Bisher eine definitive Konstante in seinem Œuvre. Seine Gedichte strecken damit ihre Hände weit zurück in die Kulturgeschichte und suchen Kontakt durch die Form. Was konservativ interpretiert werden kann, kann ebenso ein sehr spannender Dialog mit der Vergangenheit aus der Gegenwart sein. Bestimmte Formen haben sich in bestimmten Zeiträumen nicht grundlos entwickelt und sich daraufhin verfestigt, aber auch verändert. Die Menschen haben anders gesprochen, anders gedacht und anders gedichtet. Heute in diesen Bahnen zu denken und zu dichten ist ein Versuch, diesem alten Denken neues Leben einzuhauchen, dadurch auch heutige Themen durch diese Prismen schillern zu lassen. Die Form bedingt, wie wir etwas wahrnehmen. Falls wir uns einmal in der Situation finden, irritiert zu sein von einer traditionellen Form, dann, weil diese alten Wege uns nicht mehr vertraut sind. Wagners Guerickes Sperling kann uns darüber nachdenken lassen, was es bedeutet, mit Gedichten – vielmehr: in Gedichten zu denken.
 
In selbigem Band sind verschiedene Themenschwerpunkte. Einerseits zeitgenössische Ortseindrücke, andererseits ortsgebundene Geschichte. Wagners Gedichte driften zwar nicht in ein archaisches Vokabular – das gilt grundsätzlich –, jedoch wirken seine historischen Gedichte wie ein unbeteiligtes Befragen: Was hat uns die Geschichte zu sagen? Das wird ganz besonders katalysiert durch die verwendeten Formen. Ich frage mich hingegen: Ist die Geschichte eine Einbahnstraße? Was haben wir der Geschichte zu sagen? Ich stelle diese Fragen, weil die Geschichte, die Jan Wagners Gedichte zeichnen, kaum mehr als Anlässe sind, statt Formen und Inhalte zu einem funkeln zu amalgamieren.
 
Ein besserer Versuch ist das Gedicht Dolmen. Es geht um altertümliche Steingräber (Dolmen) in der Nähe der „Autopista“. Ich spüre den ausgestreckten Arm und die Brücken zwischen der Schnelllebigkeit der Autobahn und den uralten Steingräbern, die so unwahrscheinlich wirken in Anbetracht der noch fehlenden Ingenieurskunst und doch in deren Ruhe eine Ewigkeit liegt. Aber was fehlt? Es fehlt der Rhythmus von Kraftwerks „Wir fahr‘n, fahr‘n, fahr‘n auf der Autobahn“. Das eigentlich zeitgenössische, die Signatur unserer Zeit. Und diese in alten Formen auszudrücken, ist eine Schwierigkeit, die Jan Wagners Gedichte nicht immer gut in diesem Band gelingen.
 
Ich bin mir unsicher. Es ist ein anregender Band mit vielen poetischen Bildern, die sehr einfallsreich sind. Es ist ein für Lyrikbegeisterte aufregendes Unterfangen, alten Formen beim Wiederauferstehen zuzusehen. Als Versuche finde ich sie sehr bemerkenswert. Gleichzeitig habe ich nicht den Eindruck, dass sie tatsächlich den Ohrensessel ihres Urhebers verlassen haben. Ich sagte es schon: Ihnen fehlt die Geschwindigkeit der Autobahn, das Risiko. Vielleicht sind sie doch zu konservativ und bequem.
 
 

"Guerickes Sperling - Gedichte" von Jan Wagner
Buchcover-Abbildung (Berlin Verlag)

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Wagner, Jan: Guerickes Sperling
Berlin Verlag, 2004;
84 Seiten, Hardcover;
ISBN: 3-8270-0091-2
 
 
 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert