Neugelesen – Folge 54: »Hymnen an die Nacht« von Novalis

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Novalis: Hymnen an die Nacht

„Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ihn, das allerfreuliche Licht“. Es ist eigentlich nur auf den ersten Eindruck seltsam, dass Novalis‘ Hymnen an die Nacht von 1800 mit Licht beginnen. Schatten und Licht, Tag und Nacht, sind nicht ohne einander zu haben. Als Werk der deutschen Frühromantik entfalten Novalis‘ Hymnen an die Nacht die Dialektik von Liebe und Tod, Nacht und Licht, Poesie und Philosophie durch seine poetische Perspektive. Der Autor, der durch den Tod seiner Verlobten Sophie von Kühn in eine existenzielle Krise gestürzt wurde, schrieb sechs Gedichte, in denen er seine Sehnsucht nach ihr und nach einer anderen Welt ausdrückt, die er in der Nacht zu finden glaubt. Die Nacht wird dabei als eine negative Theologie verstanden, die dem Menschen eine Offenbarung, eine Schönheit und eine Seligkeit jenseits der rationalen und empirischen Welt bietet, während das Licht als eine positive Theologie erscheint, die den Menschen in eine Welt der Oberflächlichkeit, der Vergänglichkeit und der Enttäuschung führt. Die Hymnen sind in einer reichen und symbolischen Sprache geschrieben, die verschiedene Quellen der Kultur, der Religion, der Mythologie und der Literatur aufnimmt und transformiert. Die Hymnen liegen in zwei Fassungen vor: einer handschriftlichen Versfassung und einer gedruckten Prosafassung, die beide von Novalis selbst stammen. Die Prosafassung gilt als die endgültige und authentischere Fassung, die Novalis für die Veröffentlichung in der Zeitschrift Athenäum auswählte.

Und was für ein eindrucksvolles Beispiel für die Mimesis der Poesie sie sind! Die Grenzen der rationalen und empirischen Welt zu negieren und eine neue Sicht auf die Wirklichkeit zu schaffen, die von der Imagination, der Intuition und der Emotion geleitet wird, ist die große Leistung dieser prosaischen Dichtung.

Ein wichtiges Motiv, das die Dialektik von Liebe und Tod, Nacht und Licht, Poesie und Philosophie in den Hymnen an die Nacht ausdrückt, ist das Motiv des Rausches. Der Rausch ist eine Möglichkeit, die Grenzen der rationalen und empirischen Welt zu negieren und eine neue Sicht auf die Wirklichkeit zu schaffen, die von der Imagination, der Intuition und der Emotion geleitet wird. Der Rausch ist dabei nicht nur ein Zustand der Trunkenheit oder der Ekstase, sondern auch ein Zustand der Inspiration und der Erleuchtung, der dem Dichter eine tiefere Erkenntnis, eine höhere Schönheit und eine wahre Seligkeit bietet. Der Rausch ist eine Form der paradoxen Nachtbegeisterung zwischen leben und sterben, die der Dichter in den Hymnen an die Nacht anstrebt und erfährt. Auch im kreativen Schlummer und dem Fliegen prägt Novalis die rauschhafte Nacht. Kurzum ein zentrales Motiv in Novalis Hymnen an die Nacht.

Mich fasziniert die Frühromantik nach über zweihundert Jahren noch immer. Die Hymnen sind ein Werk, das eine kritische und kreative Haltung gegenüber der modernen Welt anregt, die oft von der Technik, dem Materialismus und dem Zweckrationalismus dominiert wird. Die Hymnen fordern ein, sich nicht mit der Oberfläche der Dinge zufrieden zu geben, sondern nach einer tieferen und umfassenderen Wahrheit zu suchen, die nur in der Nacht und in der Poesie zu finden sind. Zugegeben gleitet das nun etwas in eine neue Spiritualität und tatsächlich gab es in der Frühromantik christliche Einheitsideen neben den kirchlichen Institutionen. Damit möchte ich wenig zu tun haben. Doch dem zum Trotz bin ich davon überzeugt, dass eine utopische Grundhaltung die Hymnen der Nacht tragen. Sie sind eine Einladung, sich ebenfalls auf eine Reise in die Nacht zu begeben, um dort die verborgenen Schätze der Seele zu entdecken und zu erleben.

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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