Neugelesen – Folge 59: »handverlesen. Gebärdensprachpoesie in Lautsprache«, herausgegeben von Franziska Winkler

Bücher können auftauchen und glänzen, aber auch einstauben und verschwinden – immer jedoch, und ganz gleich, wie alt sie sind: ihre Texte wollen neuentdeckt werden! David Westphal stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor.

 

Franziska Winkler (Hg.): handverlesen – Gebärdensprachpoesie in Lautsprache

In der Reihe Neugelesen spielt sich immer mal wieder das Schauspiel um die Frage ab, was Sprache eigentlich ist. Es ist und bleibt eine für mich höchst interessante, sehr komplexe und vor allem von der Lyrik immer wieder gestellte, theoretische, wie poetologische Frage. Doch mit Franziska Winklers Gedichtband handverlesen stellt sich diese Frage nicht einfach neu, sondern ganz anders.

handverlesen ist ein Gedichtband, in dem Gebärdensprachenpoesie in Lautsprache übersetzt wurde. Und zwar von gehörlosen und hörenden Poeten und Poetinnen wie DolmetscherInnen. In der Augmented-Reality-Ausgabe finden sich sowohl die lautsprachlichen Übersetzungen, wie auch die Möglichkeit, sich die Darbietungen der Gebärdensprachpoesie mit dem Smartphone anzusehen.

Zudem steht den Gedichten ein kurzer, aber äußerst erhellender, wie auch selbstkritischer Essay von Liona Paulus voraus. Woher soll man wissen, dass es unterschiedliche Gebärdensprachen auf der Welt gibt? Und dass die Gebärdensprache in Deutschland nur wenig mit der Syntax und Grammatik des Deutschen zu tun hat? Gerade deshalb ist das Schriftdeutsch nicht unbedingt gut zugänglich für gehörlose Menschen, die nur die Gebärdensprache beherrschen. Die Gebärdensprachpoesie ist dabei ein eher jüngeres Phänomen, dass sich etwa zur Deaf Performance, also der gebärdensprachlichen Interpretation von Musik, hinzu gesellt. Wer schon einmal Gebärdensprache in der Öffentlichkeit beobachtet hat, der kennt die Ausdrucksstärke der Gesten. Von der Intensität und vielen weiteren Faktoren hängt die Semantik des gesagten fundamental ab. So wie etwa Ironie in der deutschen Lautsprache deutlich an der Sprachmelodie hängt. Und ebenso ausdrucksstark ist die Gebärdensprachpoesie in diesem Band.

Als jemand, der der Gebärdensprache nicht mächtig ist, gibt es viele Überraschungsmomente beim Lesen und Schauen der Gedichte. Zum einen ist es faszinierend, wie intuitiv man gewisse Gesten versteht. Der ganze Körper der LyrikerInnen spricht zu einem. Das gilt aber freilich nur eingeschränkt. Wer die nebenstehenden Texte zuvor nicht gelesen hat, wird darin eher eine Art der Tanzperformance mit ganz eigenem Wert entdecken. Wiederum ist es spannend, beide Texte – auch der Begriff Text darf an vielen Stellen revisioniert werden – miteinander zu vergleichen.

Im Vorwort versucht die Herausgeberin Winkler unter Umständen ein paar zu große, theoretische Sprünge. Doch bedenkenswert bleiben sie. Ein absolut bemerkenswertes Projekt, das die Lyrik um eine performative Achse erweitert.

 

"andverlesen. Gebärdensprachpoesie in Lautsprache" von Franziska Winkler
Buchcover-Abbildung(Verlag hochroth)

 

 

 

 

Winkler, Franziska: handverlesen. Gebärdensprachpoesie in Lautsprache
hochroth, München 2023
56 Seiten, Broschur
ISBN: 978-3-949850-11-0

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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