Bücher können auftauchen und glänzen, aber auch einstauben und verschwinden – immer jedoch, und ganz gleich, wie alt sie sind: ihre Texte wollen neuentdeckt werden! David Westphal stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor.
Signe Gjessing – Tractatus Philosophico-Poeticus
In dieser Folge Neugelesen möchte ich ein weiteres Mal in die Werkstätte des Lesens vordringen. Während ich das hier schreibe, habe ich nämlich noch keine Zeile aus dem Buch gelesen, um das es gehen soll. Es liegt auf meinem Tisch. Schlank, weiß, elegant, aber mit einem bearbeiteten Stockphoto aus dem Internet auf dem Cover. Die Autorin ist die Dänin Signe Gjessing, der Verlag: Matthes & Seitz; aus dem Dänischen übersetzt von Peter Urban-Halle; der Titel: Tractatus Philosophico-Poeticus. Das ist Latein und bedeutet „philosophisch-poetische Abhandlung“.
Und nicht zufällig sind es diese großen Worte, die mich anziehen. Es ist offenbar eine direkte Bezugnahme auf das sehr einflussreiche Buch von dem Philosophen Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus von 1922. Weite Teile der Philosophie des letzten Jahrhunderts haben sich an der strengen Hierarchie dieser philosophischen Abhandlung abgearbeitet. Jeder einzelne Satz bzw. Absatz ist nummeriert und einer Ebene zugeteilt. Sowohl der 1. Satz, als auch der 7. und letzte Satz sind legendär: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ und „Wovon man nichts sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Wie haben mich diese Sätze beschäftigt! Nun ist da Signe Gjessing. Ungefähr im gleichen Alter wie Wittgenstein 1922 und ungefähr so alt wie ich. Und schreibt ein Buch mit deutlicher Reverenz. Für mich als philosophiebegeisterten Leser ist damit sofort eine sehr hohe Erwartungshaltung entstanden, wie auch die Reflexion, wie diese Haltung meine Leseerfahrung beeinflussen wird. Darum liegt das Buch nun immer noch geschlossen auf meinem Tisch. Was ich erwarte: Selbstverständlich irgendeine Art von Nummerierung und Hierarchie der Verse. Es wird Sätze und Untersätze und Unteruntersätze geben, die aufeinander Bezug nehmen. Formal gesehen ist es das augenfälligste des Originals. Auf den ersten Blick ist diese poetische Abhandlung ziemlich schlank. Wittgenstein wollte mit seiner Abhandlung die philosophische Sprache von unsinnigen Fragen befreien, die ohnehin nicht beantwortbar sind. In seiner späteren Philosophie wird ersichtlich, dass er zwar immer noch der Auffassung ist, dass die philosophisch-wissenschaftliche Sprache Grenzen hat, dass er aber nicht der Überzeugung ist, dass wir Unsagbares nicht sprachlich aufsuchen sollten. Nur eben nicht in der Sprache der Philosophie, sondern zum Beispiel in der poetischen Sprache. Ob darauf Bezug genommen wird? Nach diesen Vorüberlegungen schlage ich das Buch auf.
Es beginnt mit einem Vorwort der Autorin. Zunächst beschreibt sie Form und Inhalt von Ludwig Wittgensteins Abhandlung. Auf zwei Seiten versucht Gjessing, das Profil ihres Tractatus im Vergleich zu Wittgensteins zu schärfen. Beiden Tractati ginge es um Grenzen des Sagbaren. Jedoch habe ihr Traktat die „Ekstase als Grundlage“, nicht die Logik. Sie möchte das Aussprechen, was logisch-philosophisch nicht mehr aussprechbar ist. Trotzdem will sie, so schreibt Gjessing, die philosophische Strenge beibehalten. So wie ich Wittgenstein verstehe, hätte er ihr an dieser Stelle vermutlich einen Denkfehler bescheinigt: das Unsagbare hat gewiss nicht die Form seines frühen, logischen Traktats. Sie wartet auch nicht lange, um das Unsagbare zu identifizieren: das Transzendente. Ein Schnellschuss? Was dann folgt, ist ein ausschweifendes Mäandern um Begriffe in nur wenigen Sätzen. Das passt irgendwie zur vorausgeschickten Ekstase, aber inhaltlich muss sie all das doch erst einmal mit ihren Gedichten einholen. Das könnte schwierig werden. Ich blättere weiter zum ersten Gedicht.
Wie bei Wittgenstein erwarte ich einen sehr bedeutsamen, aber noch näher zu erläuternden, ersten Satz bzw. in diesem Fall Vers: „1 Die Welt sieht sich vor, / entsteht dann, schön.“ Die Welt hat demnach eine Art Bewusstsein, das bereits existiert, bevor die Welt entsteht und zu Schönheit gelangt. Das kann ich einfach erst einmal hinnehmen, eine Art Kredit, der von der Autorin noch zurückgezahlt werden muss – allerdings nicht der Erste. Interessant ist, dass die Nummerierung auf der ersten Seite nicht logisch ist. Nach 1 kommt 1.01, 1.011 und 1.0111. Logisch würde 1.1 folgen, was erst auf der nächsten Seite geschieht. Der Unsinn hält also schon Einzug, was eine spannende Formentscheidung ist. Ich blättere weiter …
Nun bin ich bereits am Ende des Buches angekommen, schließlich können wir hier nicht jeden Satz besprechen. Es endet nicht, wie bei Wittgenstein, mit Satz 7, sondern mit Satz 7.22: „Die Welt geht vorüber“. Ist das eine Erkenntnis, die sich nach dem Lesen dieses poetischen Tractatus philosophisch ergibt? Bin ich nach dem Lesen in dichterischer Ekstase ob der universalen Transzendierung des ontologischen Vorranges möglicher Welten? Das Buch hat insgesamt 47 Seiten und ist 2019 auf Dänisch und 2023 auf Deutsch erschienen, das erfahre ich zum Schluss. Im Prinzip ist es ein Langgedicht, dafür sind ca. 30 Seiten eigentliches Werk lang. Man überlege sich, dass viele Gedichte keine 30 Wörter haben. Für eine Abhandlung, ein Traktat, mit so hohen Zielen ist das aber sicher zu kurz. Entsprechend enttäuscht gehe ich aus der Lektüre. Das Buch erscheint mir eher eine Spielerei mit großen Namen und Worten zu sein, statt ernstem Erkenntnisinteresse zu folgen. Vielleicht sind meine philosophischen Ansprüche auch zu hoch. Jedoch will es schließlich auch philosophisch sein. Ich spüre weder die angepriesene Strenge, denn nicht alle Sätze folgen einer klaren Hierarchie (etwa sind die 7 Hauptsätze nicht alles Hauptsätze). Noch spüre ich die große Ekstase. Ekstase ist ein Ausnahmezustand des Seelenlebens, der auf übernatürliche Ursachen zurückgeführt wird. Sie soll nach eigenen Angaben die Grundlage des ganzen Textes sein und zum Transzendenten führen. Doch ein übernatürlicher Ausnahmezustand erschließt sich mir nicht, nur weil manchmal das Universum, das Jenseits und Blumen bemüht werden. Was ist denn aber mit der Poesie? Die tritt aus meiner Sicht vollkommen in den Hintergrund vor lauter irritierter Philosophie. Allein das Unsinnige blitzt immer wieder in Inhalt und Struktur auf. So bleibt das Buch weit hinter den eigenen Ansprüchen und meinen Erwartungen abgeschlagen. In meinem eigenen Denken bin ich ähnlichen Ideen immer mal wieder auf der Spur. Leider hat Gjessing diesem Denken nichts hinzufügen können, außer, dass es eben kein leichtes Unterfangen darstellt, und mit wilden Begriffen, vorbestimmter Form und berühmten Nachbarn allein nicht zu lösen sein wird. Zuletzt muss ich an zwei für mich leitende Sätze aus meinem Studium denken: „Auf den Schultern von Riesen sieht man weiter“ (von einem Philosophiehistoriker), jedoch: „Man muss aufpassen, wessen Nähe man mit seinen Untertiteln sucht“. Den zweiten Satz hat 2012 ein Professor für theoretische Philosophie ausgesprochen. Das war während eines Seminars über das philosophische Schreiben, und er hat damals auf eben jenes Werk von Wittgenstein angespielt: Wer Traktat auf seine Arbeit schreibt, sollte sich nicht wundern, wenn auch eine systematisch erschöpfende Abhandlung erwartet wird. Was bleibt, ist die Möglichkeit, dass ich das Ganze nicht verstanden habe. Diese Unsicherheit wird mich noch eine Weile begleiten.
Signe Gjessing
Tractatus Philosophico-Poeticus. Gedicht.
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle
Matthes & Seitz, Berlin 2023
47 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3-7518-0923-8
David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.