Bücher können auftauchen und glänzen, aber auch einstauben und verschwinden – immer jedoch, und ganz gleich, wie alt sie sind: ihre Texte wollen neuentdeckt werden! David Westphal stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor.
Henri Cole: Blizzard
Vor nicht ganz einem Jahr war die Buchpremiere von der diesjährigen DAS GEDICHT-Ausgabe 31 Laut & Leise. Einer der geladenen Dichter war Josef Brustmann. Er eröffnete mit einer Anekdote. Er sei am 13. November ins Lyrik-Kabinett gefahren, vorbereitet auf die Buchpremiere und seinen Auftritt. Jedoch stand er gar nicht auf der Liste der lesenden Lyriker an diesem Abend. Dort stand nur der Amerikaner Henri Cole. Josef Brustmann hatte sich im Datum geirrt, denn die angesinnte Veranstaltung war erst für den 29. November angesetzt. Mit reicher Selbstironie bemerkte er: „Cole war großartig!“
Es war kein Zufall, dass Henri Cole letztes Jahr im November zu Gast im Lyrik-Kabinett war. 2023 erschien sein Gedichtband Blizzard in zweisprachiger Ausgabe in der Edition Lyrik-Kabinett im Hanser Verlag. Ich hatte selbst noch keine Berührungspunkte mit Henri Coles Werk. Nach einem Jahr Karenzzeit sollte mich nun Coles Blizzard erfassen. Doch das erste, was einem in diesem Gedichtband begegnet, ist eine Biene, die aus einer schwarzroten Pfingstrose taumelt. Es war wohl eine kalte Nacht. Das lyrische Ich fragt die Biene, ob sie vernehme, wie es Leben in Sprache umwandle und, aufgesogen wie Nektar, es wieder als Gold ausspeie. In diesem Moment wollte ich, ganz ehrlich, das Buch wieder zur Seite legen. Ich empfand diese Verse als großspurig und konstruiert. Vom profanen Bienchen, natürlichen Instinkten, zu alchemistischer und selbstherrlicher Metaphorik. Ich war enttäuscht. Oder ließ ich mich vom ersten Eindruck täuschen? Ich musste es genau wissen.
Coles Gedichte sind alle in der Ich-Form. Ornamente und Blumigkeit sind nicht sein Handwerk. Er bewegt sich in lakonischen Dimensionen. Wobei er nicht im erzählerischen Ausdruck bleibt, denn seine Metaphern kündigen häufig große Gedankensprünge an. So wie die Biene, die zum Ausdruck der Unverstandenheit des Ichs summt. Die Gedichte beinhalten viele nachdenkliche und lebensnahe Passagen, die autobiographisches Material vermuten lassen. Nach meiner ersten Enttäuschung habe ich zunächst das Internet über Autor und Werk befragt. Er bezeugt, dass es nicht eigentlich um Bekenntnisse und Biographie ginge. Er hat sehr klar reflektiert, dass es ihm um das Künstlerische gehe. Und dieses Künstlerische wollte ich finden.
Indessen war es nicht schwer, auf die richtigen Spuren zu kommen. Im zweiten Gedicht des Bandes entdeckt ein Mann mittleren Alters die Besonderheit, sein Seelenleben in der Tätigkeit des Kartoffelschälens zu finden. Großspurig oder ironisch? Das bleibt offen. Doch sicherlich darf man sich als grübelnder Mensch ertappt fühlen. Darin sehe ich das Kühne seiner Lyrik, das vielfach beschworen wird. Er ist so dicht am Innenleben im Außen eines Menschseins, dass es unangenehm werden kann, lässt man sich auf die Verse ein. Er hat in einem Interview das Wort Röntgenstrahlen fallen lassen. Dass seine Gedichte dabei auf den Grund meiner Seele leuchten würden, wäre doch zu esoterisch. Dass aber viel zum Denken in seiner Kunst übrig bleibt, ist sicher, möge auch das ein oder andere Bild etwas anachronistisch wirken; was nicht unbedingt als Kritik zu verstehen ist. Ich werde den nächsten Gedichtband jedenfalls in die Hand nehmen und hoffe, dass er wieder in München zu hören sein wird.

Cole, Henri
Blizzard. Gedichte.
Zweisprachig aus dem Englischen von Henning Ahrens.
Edition Lyrik-Kabinett, Carl Hanser Verlag München 2023
Hardcover, 112 Seiten
ISBN 978-3-446-27759-5

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
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