Bücher können auftauchen und glänzen, aber auch einstauben und verschwinden – immer gilt jedoch, ganz gleich, wie alt sie sind: Ihre Texte wollen neuentdeckt werden! David Westphal stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor.
In letzter Zeit bekomme ich immer mal wieder auf politischen Veranstaltungen von jungen Frauen engagierte Gedichte in die Hand gedrückt. Sie verdammen, was ist, träumen von der Zukunft. Es freut mich, dass die Lyrik Bedeutung für sie hat! Doch schmecken die Verse mir trotzdem nicht. Es sind alles andere als Delikatessen. Sie sind so ambitionslos wie schon damals in meiner Schulzeit die Gedichte von etwas zu nachdenklichen Teenagern. Auch sie zeichnen sich aus durch abgegriffene Metaphern, überbordende Sprache und die Haltung, Kritiker verstehen unseren Weltschmerz einfach nicht. Ich kenne das alles selbst von früher, war auch so. Doch ich wollte dazulernen:
zerschlagt eure Lieder
vergesst eure Reime
sagt nackt
was ihr müßt.
So schrieb es Wolfdietrich Schnurre in der Nachkriegszeit. Insbesondere die vielen Haus-Maus-Reime habe ich nach dieser Entdeckung nicht mehr verwendet. Doch einen wichtigen Stoß habe ich auch von Ingeborg Bachmanns möglicherweise letztem Gedicht bekommen: »Keine Delikatessen«. Es beginnt so: »Nichts mehr gefällt mir.« Daraufhin stellt sie sich aus lyrischer Perspektive existenzielle Fragen: Was bringen Metaphern? Was verstellt Syntax? Wer interessiert sich für diesen Scheiß? Zugegeben drückt sie sich vornehmer aus, aber es hatte für mich eben jene Wucht: Wenn eine Dichterin wie Ingeborg Bachmann ihre eigene Lyrik über den Haufen wirft – und zwar gekonnt lyrisch! –, dann sollte ich doch wohl auch mal etwas genauer hinfühlen, was ich schreibe! Ja, sollte ich mich nicht mal fragen, ob meine Gedichte überhaupt lesenswert sind? Und warum das Feld nicht gegebenenfalls auch einfach anderen überlassen? Auch dieser Gedanke von ihr hat mir imponiert.
(Soll doch. Sollen die andern.)
Mein Teil, es soll verloren gehen.
So endet ihr Gedicht, das den Widerspruch, selbst eine Delikatesse zu sein, nicht auflöst. So endet ihr vermutlich letztes Gedicht. Und mit ihm möchte ich dazu ermutigen, auch ihre sämtlichen Gedichte in die Hand zu nehmen und ein neues, kritisches Lesen zu beginnen: Diese Art der kritischen Verunsicherung kann uns allen nur guttun.

Ingeborg Bachmann: Keine Delikatessen
in: Sämtliche Gedichte
Piper 1998
Softcover
239 Seiten
12,00 Euro
ISBN 978-3-492-23985-1

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
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